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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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saß neben dem Tonbandgerät und hörte konzentriert zu.
    »Ich hör dich in ihm«, sagte er. »Du bist in jeder Hinsicht sein Sohn.«
    »Wenigstens weiß ich, wer ich bin.«
    Shane nickte. »Und du bist gut, während ich weder gut noch böse bin. Aber ich habe gelernt, wie man vorausdenkt und plant und etwas fixer ist als die anderen. Musiker wie du scheitern immer an ihrer mangelnden Menschenkenntnis. Sie sind so mit ihren Songs beschäftigt, dass sie sich ums Geschäftliche nicht richtig kümmern. Bei deinem Talent hast du es verdient, in großen Hallen aufzutreten und nicht in schäbigen Hotellobbysden Alleinunterhalter zu spielen. Aber wenn du mich zu deinem Manager machst, wirst du so berühmt werden, wie du dir das nie erträumen könntest. Du musst dafür noch nicht mal deine Seele verkaufen. Es reicht, wenn du mein Freund wirst.«
    »Fahr zur Hölle«, sagte ich noch einmal, diesmal schon schwächer.
    »Es gibt einen schlimmeren Ort als die Hölle, Joey, nämlich die Vorhölle. Dort befindet sich dein Vater. Hör dir doch seine Texte an. Du kannst ihn berühmt machen: Diese Lieder sind dein Erbe. Ich kann dir bei jedem Label einen Plattenvertrag besorgen, egal bei welchem, und noch dazu Drogen, Frauen, alles. Ich kann die Leute dazu bringen, alles zu tun, was ich will, ohne dass sie es merken. Ich bin der heimliche Strippenzieher. Du brauchst nur mein Leben mit mir zu teilen und mich deines mit dir teilen zu lassen. Ich habe deinen Vater von den Toten auferstehen lassen. Er steht jetzt hinter dir und wünschte, er hätte sein eigenes Talent nicht so vergeudet. Gib ihm diese zweite Chance. Denk an die Songs, die du schreiben wirst. Er wird dir Texte, die du nicht hören kannst, ins Ohr flüstern und ich werde sie dir laut sagen.«
    Ich hörte nur halb zu, was er sagte, weil ich mich kurz umgedreht hatte, um auf den leeren Fleck zu starren, wo angeblich mein Vater stand. Ich spürte eine riesengroße Wut in mir aufsteigen.
    »Lass mich mein Leben allein führen.«
    »Joey, ich kenne jeden Gedanken, den du denkst. Ich hab solche wie dich schon so oft gesehen.«
    »Stell das Tonbandgerät aus.«
    »Zu spät, Joey. Du hast seine Stimme gehört. Sie wird dir nicht mehr aus dem Kopf gehen, genauso wie ich nicht mehr von deiner Seite weichen werde.«
    Shane hörte auf zu reden. Er starrte plötzlich erschrocken hinter sich, als hätte er bisher nur Lügengeschichten erzählt und auf einmal stünde da wirklich wer. Ich spürte, wie es im Zimmer eiskalt wurde. Ich konnte nichts sehen, aber ich hörte in meinem Kopf eine Stimme – dieselbe Stimme, die ich auch damals in der Nacht auf Bull Island gehört hatte. Sie flüsterte nur zwei Wörter: »Renn weg.«

E INUNDVIERZIGSTES K APITEL
    J OEY
    N OVEMBER 2009
    A ls ich auf die Straße hinausgerannt war, wusste ich nicht, wohin. Mum konnte ich von der ganzen Sache nichts er-zählen, weil sie nur geglaubt hätte, ich sei jetzt vollkommen wirr im Kopf. Aus einem Haus am Ende der Pine Lawn war Musik zu hören. Durchs Fenster konnte ich sehen, wie sich dort ein paar Mädchen in Minikleidern fürs Ausgehen fertig machten, wahrscheinlich wollten sie in die Wes Disco in Donnybrook. Sie quasselten und kicherten ununterbrochen. In der Einfahrt standen ein paar Jungs herum und spielten mit einem Rugbyball, während sie auf die Mädchen warteten. Aus dem Park, der sich hinter der Siedlung von Newtownpark House bis zu den Häusern von Mount Albany erstreckte, tauchten zwei weitere Jungs auf. Einer ließ aus seiner Jacke kurz eine Flasche Wodka hervorblitzen, was bei den Rugbyspielern anerkennendes Gelächter hervorrief, weil es ihm gelungen war, sie sich zu besorgen. Sein Kumpel trug rechts und links zwei Sixpacks mit Bier. Sie kamen direkt auf mich zu, aber ich hatte keine Lust, ihnen auszuweichen. Sie auch nicht. Doch schließlich machten sie zwischen sich einen schmalen Spalt frei, durch den ich mich zwängen konnte.
    »Pass bloß auf dich auf, Kumpel«, murmelte der Junge mit der Wodkaflasche im Vorbeigehen.
    Ich drehte mich um. »Warum? Was soll das?«
    Sechzehn Jahre lang war ich wie Knetmasse gewesen, bereit, mich von jedem formen zu lassen und mich immer anzupassen. Nie hatte ich von mir aus mit irgendjemand Streit angefangen, aber jetzt tobte es in mir. Ich hatte die Nase voll von Shanes seltsamen Spielchen und ich war so wütend, dass er Mum einen so üblen Streich gespielt hatte, dass mir eine richtige Schlägerei gerade recht kam, egal mit wem. Wenn es sein musste,

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