Wo die verlorenen Seelen wohnen
würde ich es auch mit allen Jungs gleichzeitig aufnehmen, dachte ich, selbst wenn sie mich zu Brei schlugen. Ich wollte eine Rauferei, denn mich verprügeln zu lassen, war mir immer noch lieber, als zu versuchen, den Wirrwarr an Gedanken in meinem Kopf zu sortieren. Ich griff blitzschnell in die Jacke des Jungen und zog die Flasche Wodka heraus.
»Fick dich doch ins Knie!«, rief ich, drehte mich um und ging weiter. Nach ein paar Schritten war ich im Park und machte mich schon darauf gefasst, dass sie bei den alten Bäumen über mich herfallen würden. Aber etwas schien sie zögern zu lassen, als hätte sie mein Mut beeindruckt. Dann hörte ich zwischen ihren verärgerten Rufen eine vertraute Stimme und wusste, dass Shane zu ihnen gestoßen war und sie in dem sanften Tonfall, den er so oft benutzte, beruhigte. Ich wusste auch, dass er ihnen Geld geben würde, um sich eine neue Flasche zu kaufen, und dann würde er mir in den Park folgen, weil er es in seiner Einsamkeit nicht ertrug, mich gehen zu lassen. In seinem Zimmer hatte ich ihm seine Lügenmärchen beinahe geglaubt, aber jetzt in der kalten Novemberluft, während ich an den leeren Tennisplätzen vorbeiging, war mir klar, dass Thomas und er einfach nur krank im Kopf waren und sich die merkwürdigsten Dinge zusammenfantasierten. Aber dass ich den Geist meines Vaters in Shanes Zimmer hinter mir gespürt hatte, löschte auch die kalte Nachtluft nicht aus.
Ich schraubte die Flasche auf und nahm einen ersten Schluck. Am liebsten hätte ich den Wodka gleich wieder ausgespuckt. In meiner Kehle brannte es und einen Moment lang konnte ich nichts sehen. Aber dann nahm ich einen zweiten Schluck und einen dritten, noch größeren, während ich über den Rasen auf die Häuser von Mount Albany zuging. Ich drehte mich nicht um, aber ich wusste, dass Shane mir folgte. Ich war zornig auf ihn und alles, was mit ihm zu tun hatte. Gleichzeitig fühlte ich mich von dem Wodka seltsam beschwingt, wenn mir auch etwas schwindlig war. Ich sagte mir, ich sollte jetzt besser mit dem Trinken aufhören, und gleichzeitig wollte ich die Flasche leeren. Zum Glück tat ich das nicht, aber die Hälfte davon hatte ich runtergestürzt, bevor ich die Flasche in eine Einfahrt schmiss. Das Glas zersplittern zu hören erfüllte mich mit einer seltsamen Befriedigung. Ich schwankte zwar leicht, aber ich fühlte mich voller Energie. Shane würde nicht länger über mein Leben bestimmen. Das würde ich selbst tun. Ich würde ihm zeigen, dass ich alles, was er tat, auch tun konnte. Vor einem Haus parkte ein Auto in zweiter Reihe mit laufendem Motor, ein junger Chinese lieferte Pizza aus. Das Mädchen im Hauseingang verschwand, um ihren Geldbeutel zu holen, und ich blieb neben der offenen Fahrertür stehen. Shane näherte sich.
»Was hast du vor?«, flüsterte er.
»Vielleicht bin ich jetzt zur Abwechslung mal dran und fahre dich ganz stilvoll zu einem echt coolen Konzert.«
»Du kannst doch gar nicht fahren.«
»Na und. Das hier ist ein Automatik. So schwer kann das nicht sein.« Doch als ich auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, merkte ich, dass es wirklich nicht einfach war. Der Pizzamann wartete immer noch auf sein Geld. Shane öffnete die Beifahrertür und zischte mir zu: »Bist du verrückt?«
Vielleicht war ich das ja. Als Shane sah, dass ich die Handbremse löste, sprang er herein. Das Auto machte einen Satz nach vorn. Ich musste heftig auf die Bremse treten, um nicht gegen ein anderes geparktes Auto zu rumpeln.
»Mein Gott, dann lass wenigstens mich ans Steuer«, sagte Shane.
Ich antwortete nicht. Das Auto schoss wieder los. Ich fuhr jetzt in der Mitte der Straße und versuchte, mit dem Lenkrad zurechtzukommen. Hinter uns hörte ich ein Rufen und sah im Rückspiegel den Pizzamann, der uns nachrannte. Das Auto steuerte mal auf die eine, dann auf die andere Seite, immer knapp an den parkenden Wagen vorbeischrammend. Shane schrie, ich solle anhalten. Er versuchte, selbst nach dem Lenkrad zu greifen, und schien zugleich Angst zu haben, dass das Auto dann völlig außer Kontrolle kommen könnte. Dieser Kontrollverlust machte ihm zu schaffen, denn es bedeutete, dass er nicht mehr länger alle Fäden in der Hand hatte. Vom ersten Augenblick an hatte immer ich ihn bestimmen lassen, wo es in unserer Freundschaft langging. Aber diesmal bestimmte ich und er musste mir folgen. Er hatte in meinem Kopf genug Durcheinander angerichtet, jetzt konnte ruhig auch mal seiner ein bisschen durchgeschüttelt
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