Wo die Wahrheit ruht
hing ordentlich aufgereiht an einer Stange des begehbaren Kleiderschranks. Schuhe und Stiefel in verschiedenen Formen und Farben standen in dem darunter liegenden Regal.
Froh darüber, nur wenig eingepackt zu haben, hängte sie ihre Kleider an die gegenüberliegende Stange. Dann fiel ihr plötzlich die Verabredung mit Denise ein. Hastig zog sie sich aus und ging ins Badezimmer, um zu duschen.
“Man glaubt es kaum, aber New Hope hat einmal als Industriestadt angefangen. Es gab Papierfabriken, Steinbrüche und Getreidemühlen”, erklärte Denise, ganz in ihre Rolle als Touristenführerin versunken.
Sie wickelte ihr Sandwich aus und reichte Grace eine Hälfte. “Doch selbst in jenen frühen Tagen”, fuhr sie fort, “blieb die Schönheit von Bucks County nicht unentdeckt. Schon bald ließen sich Künstler am Ufer des Delaware nieder, und New Hope entwickelte sich zu einer Künstlerkolonie.”
“Kein Wunder”, sagte Grace. “Das Panorama, das sich von der North River Road bietet, ist einfach spektakulär.”
“Und es wird sogar noch schöner, je weiter man fährt.”
Mit ihrem Thunfisch-Roggensandwich in der Hand bummelte Grace an den Geschäften der Main Street vorbei. Die Läden präsentierten sich mit ihrem bunten Warenangebot an Süßigkeiten, Antiquitäten, seltenen Büchern, Delikatessen und Gartendekorationen. Die Ladenbesitzer hatten zum Herbst Töpfe voller farbenfroher Chrysanthemen vor die Türen gestellt und die Telefonmasten mit Maisstangen umwickelt.
“Manche der Gebäude sind wirklich schön”, bemerkte sie. “Sind sie wirklich alt oder nur rekonstruiert?”
“Viele davon sind richtig, richtig alt. Das
Logan Inn
zum Beispiel, an dem wir eben vorbeigekommen sind, steht unter Denkmalschutz. Die ganze Stadt New Hope ist als Kulturhauptstadt registriert. Das große Steingebäude da drüben …”, sie deutete mit dem Finger darauf, “… ist das
Parry Mansion
, es hat einmal Benjamin Parry, einem reichen Fabrikanten, gehört.”
“Ich habe schon fünf Kunstgalerien gezählt. Hat Steven sich keine Sorgen wegen der großen Konkurrenz gemacht?”
“Und ob. Am meisten wegen der Haas-Muth-Galerie. Sie liegt ein Stück weiter die Straße hoch, hinter der Hatfield Galerie. Der Besitzer ist selbst Künstler, doch er stellt nicht nur Gemälde aus, sondern auch Orientteppiche, und die lotsen ihm viele Kunden in den Laden. Steven hatte überlegt, sein Angebot auf ähnliche Art zu erweitern, nicht mit Teppichen, aber mit antiken Uhren zum Beispiel.” Ihre Stimme nahm plötzlich einen melancholischen Klang an. “Aber dazu ist es ja nicht mehr gekommen.”
“Wer ist das?”, fragte Grace und deutete mit dem Kinn zu der nahe gelegenen Kirche hinüber.
“Unser Pastor Donnelly. Vor vielen Jahren war er als junger Priester schon einmal in unserer Stadt. Doch da die Kirche ihre Hirten gerne in verschiedene Gemeinden schickt, wurde er versetzt. Jetzt ist er wieder bei uns.”
Denise lächelte dem gut aussehenden Mittvierziger zu, der sie mit unverhohlener Neugier betrachtete. Er trug eine schwarze Hose und ein schwarzes Jackett, an seinem Hals blitzte ein weißer Kragen. “Guten Tag. So ein Zufall. Gerade habe ich von Ihnen gesprochen.”
“Ich fühle mich geschmeichelt.” Er blickte zu Grace hinüber. “Sie müssen Miss McKenzie sein.”
Sie streckte ihm die Hand entgegen. “Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.”
“Willkommen in New Hope. Ich hoffe, Sie haben sich von dem unglückseligen Vorfall gestern Abend erholt.”
“Absolut, vielen Dank.”
“Dann werden Sie doch bestimmt Zeit finden, am Sonntag die Messe zu besuchen, nicht wahr?” In seinen Augen blitzte jugendlicher Schalk.
Grace ging nur selten in die Kirche, aber wie hätte sie eine solch charmante Einladung ausschlagen können? “Nichts wird mich davon abhalten”, versprach sie.
“Sie sind unverbesserlich, Pastor”, sagte Denise. “Immer auf der Jagd nach neuen Schäfchen.”
“Pflicht und Vergnügen zugleich, Denise. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen wollen, Ladies, ich muss meine Runde durchs Krankenhaus drehen. Ihnen beiden noch einen schönen Tag.”
“Was für ein guter Mann”, sagte Denise, als der Pastor sich entfernte. “Er ist mir eine große Stütze. Er predigt nicht, kritisiert nicht und drängt einen nie dazu, etwas zu sagen, was man nicht sagen will. Er sitzt einfach neben mir, und wir unterhalten uns. Er gibt mir die Kraft, durch den Tag zu kommen.” Sie biss in ihr Sandwich.
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