Wo die Wahrheit ruht
von Bucks County hineinführte. Während die ersten Sonnenstrahlen langsam den Morgennebel auflösten, begriff sie plötzlich, warum Steven sich in diesem Teil von Pennsylvania niedergelassen hatte. Er hatte schon immer ein Auge für das Schöne im Leben besessen, und auch die Künstler aus dieser Gegend wurden nicht müde, diese prachtvolle Landschaft auf Leinwand zu bannen.
Grace klappte die Sonnenblende hoch, um das Panorama mit unverstelltem Blick genießen zu können. Alte Eichen und Rotahorne säumten die Straße und bildeten einen leuchtenden Baldachin aus Gelb, Orange und Rostbraun. Versteckt hinter den Bäumen lagen zweihundert Jahre alte Häuser, die den Delaware-Fluss, einen der geschichtsträchtigsten Wasserwege des Landes, überblickten. Wohin der Blick auch fiel, Zeugnisse der Geschichte fanden sich in Bucks County an allen Ecken.
Als sie Stevens kleines, aber stilvolles Cottage erspähte, stockte ihr der Atem. In skandinavischem Stil gebaut, war das Haus mit Baumstämmen verkleidet und mit Zedernschindeln gedeckt. Die etwa fünf Meter breite Hausfront verriet ein eher kleines Anwesen. Vielmehr bestach das Cottage durch seine zierlichen Bleiglasfenster, die in perfekter Harmonie zu den Proportionen des Hauses standen.
Grace parkte ihren Wagen auf der mit Laub bedeckten Kiesauffahrt, ging zur Haustür und schloss auf. Als sie eintrat, fand sie sich in einem hübschen Wohnzimmer mit gemütlichen, marineblauen Sofas und Sesseln wieder. Ein hochfloriger Teppich in einem gedeckten Farbton lag auf dem Boden. Eine Ecke des Zimmers nahm der gemütliche Essplatz ein, der mit einem runden Ahorntisch und vier Stühlen bestückt war. Die hohen Decken und die offene Bauweise ließen das Cottage größer wirken, als es tatsächlich war. Eine Treppe in der Mitte des Wohnzimmers führte ins Obergeschoss.
Sie stellte ihren Koffer ab und nahm sich erst einmal Zeit, die Erinnerungsstücke zu betrachten, die Steven über die Jahre angesammelt hatte – antike Garderobenhaken, an denen Bilder hingen, eine extravagante weiße Kürbisflaschenlampe und eine steinerne Gartenablage, die als Beistelltisch diente. Überall hingen Familienfotos – einige kannte sie schon, andere hatte sie noch nie zuvor gesehen. Auf dem Kaminsims thronte ein Bild, das ihr nur allzu vertraut war. Die Aufnahme war in Santa Barbara gemacht worden, wo sie und Steven wenige Monate vor ihrer Trennung gemeinsam eine Kunstmesse besucht hatten.
Der Schnappschuss ließ die Erinnerungen an ihre zweijährige Beziehung wieder lebendig werden – an ihre Pläne, eines Tages gemeinsam eine Kunstgalerie zu eröffnen, und an ihre Hoffnungen, viele junge Künstler zu entdecken. Bei Stevens Mutter, Sarah, stießen ihre Pläne jedoch auf heftigen und erbitterten Widerstand.
Als dann der Hochzeitstermin näher rückte, wuchs in Grace die Furcht, dass die ablehnende Haltung ihrer Schwiegermutter, sosehr sie sich auch bemühte, diese zu ignorieren, ihre Ehe mit Steven belasten würde.
“Das nennt man kalte Füße kriegen”, hatte ihr Vater sie gewarnt. “Wenn du dich noch nicht reif für die Ehe fühlst, dann heirate auch nicht.”
Möglicherweise hatte Stevens Seitensprung sie aus diesem Grund weit weniger verletzt, als sie es erwartet hätte. Im ersten Moment hatte es sie zwar tief getroffen, aber schon nach wenigen Tagen erschien ihr die Trennung eher als Segen und weniger als Tragödie. Als Steven sie dann einige Monate später angerufen und gefragt hatte, ob sie sich eine Skulptur ansehen könne, die er ankaufen wolle, hatte sie zu ihrer eigenen Überraschung eingewilligt.
Als sie das Foto betrachtete, war sie froh, dass er sich seinen Traum erfüllt hatte. Gleichzeitig empfand sie Trauer darüber, dass er seinen Erfolg nur so kurze Zeit hatte genießen können. Sie fragte sich jedoch, warum er diesen Schnappschuss aufbewahrt hatte. Aus Sentimentalität? Als Erinnerung daran, wie ihr gemeinsames Leben hätte aussehen können?
Nachdem sie das Foto wieder an seinen Platz gestellt hatte, nahm sie ihren Koffer und trug ihn nach oben. Im einzigen Schlafzimmer des Hauses – einem großen, überwiegend in Weißtönen gehaltenen Raum – thronte ein Himmelbett aus Messing. Eine Tür führte in das angrenzende, farblich perfekt abgestimmte Badezimmer. Der Einrichtungsstil war schlicht und schnörkellos gehalten, ohne dabei ungemütlich zu wirken.
Stevens Kleidung – Hemden von Savile Row, Kaschmirjacketts, maßgeschneiderte Anzüge und Designerkrawatten –
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