Wo fehlt's Doktor?
sagen muß, daß manches, was man heutzutage sieht und hört, einen in Erstaunen versetzt. Aber es gibt gewisse Dinge, Sir, die einfach zu weit gehen. In jeder Weise zu weit. Schauen Sie einmal, Sir...« Sie kramte in der Tasche ihres Hauskleides. »Ich habe heute früh ihren Schreibtisch abgestaubt. Ich habe natürlich nicht spioniert, aber sie hat gesagt, daß der Schreibtisch immer versperrt ist. Als Schutz gegen Neugierige. So habe ich zum Spaß einmal probiert; er war nicht richtig zugesperrt und ließ sich ohne weiteres öffnen. Und, was glauben Sie, habe ich drin gefunden? Schauen Sie sich einmal diese Fotografie an!«
Sir Lancelot griff nach dem Foto. Seine Hand zitterte. »Du lieber Himmel! Das ist das Empörendste, Unanständigste, das mir je im Leben untergekommen ist.«
»Ich dachte, Sie würden dieser Meinung sein, Sir.« Er klopfte sich mit der Fotografie auf den Bart. Ihm fiel plötzlich etwas ein. »Miß MacNish, Sie müssen zugeben, daß einem derart widerwärtigen Spiel Einhalt geboten werden muß. Es kann in einer so angesehenen, honorigen Gegend wie der Lazar Row nicht geduldet werden, noch dazu auf spitalseigenem Grund. Ich fühle mich nicht nur als Kollege Bonaccords im St. Swithin, sondern als ganz gewöhnlicher Staatsbürger verpflichtet, ihn in dieser Angelegenheit zur Rede zu stellen. Man muß ihn dazu bringen, seine Entgleisung einzusehen.«
Sie zögerte. »Es wäre mir nicht angenehm, wenn er wüßte, wie Sie in den Besitz dieses Fotos gekommen sind, Sir.«
»Miß MacNish, ich würde nur meine Pflicht tun, eine unangenehme Pflicht, eine wahrlich ekelhafte Pflicht, wenn ich es diesem Bonaccord unter die Nase halte. Ich bitte Sie, einzusehen, daß es Ihre Pflicht und Schuldigkeit war, dieses Beweisstück sicherzustellen und mir zu übergeben.«
»Gut, Sir. Wenn man in Aberdeen geboren ist, drückt man sich vor keiner Pflicht.«
»Bravo! Das ist sehr edel von Ihnen. Bonaccord hat jetzt wahrscheinlich bereits herausgefunden, daß das Foto nicht da ist und Sie es an sich genommen haben. Ich denke, ich sollte ihn sofort aufsuchen. Am Donnerstagmorgen arbeitet er für gewöhnlich zu Hause.«
»Hätten Sie heute abend gern ein Frikassee mit Zwiebeln?«
»Ich hatte vor, fischen zu gehen, aber in diesem Fall werde ich mit Vergnügen zu Hause bleiben.«
»Sie sind sehr freundlich, Sir.« Miß MacNish legte behutsam eine Gabel an ihren Platz. »Ich hätte den Gedanken, daß sich eine andere Frau um Sie kümmert, nicht ertragen.«
Sir Lancelot ging rasch die paar Meter zum Haus Nummer i. Gisela Tennant öffnete die Haustür. »Oh, ich nehme an, Sie holen die Sachen von Miß MacNish.«
»Soviel ich weiß, ist sie mit Sack und Pack ausgezogen. Ich hoffe, Sie waren während der verhältnismäßig kurzen Dienstzeit mit ihr zufrieden.«
»Im Gegenteil. Ich fand sie in keiner Weise zufriedenstellend. Sie war anmaßend und frech. Und ihr Geschmack in puncto Essen war greulich. Marmelade-Pfannkuchen und Innereien. Pfui Teufel!«
»Tut mir leid, daß sie nicht entsprochen hat. Ist Dr. Bonaccord zugegen? Es liegt mir sehr daran, etwas mit ihm zu besprechen.«
»Er ist gerade damit beschäftigt, einen Artikel für die Psychologische Heilkunde zu schreiben.«
»Dann muß ich ihn leider unterbrechen.«
Man sah ihr die Verärgerung an. »Sie könnten die Unterredung doch bestimmt auf später verschieben?«
»Das glaube ich nicht. Übrigens: waren Sie jemals verheiratet, Mrs. Tennant?«
Sie blickte ihn starr an und biß sich auf die Lippe.
»Bitte, gehen Sie nach oben.«
Sir Lancelot klopfte an die Tür des Arbeitszimmers und trat sofort ein.
Der Psychiater blickte verärgert auf. »Wenn Sie erneut an akuter Katzenscheu leiden, Lancelot, fürchte ich, daß Sie sich bis heute abend damit abfinden müssen. Ich bin sehr beschäftigt. Es war schlimm genug, daß ich die Gefühlsausbrüche Ihrer Haushälterin hinnehmen mußte, die, wie ich hinzufügen möchte, eine ganz schwere Hysterikerin ist.«
Sir Lancelot hielt ihm, ohne es loszulassen, das Foto unter die Nase.
»Das haben Sie von Miß MacNish«, sagte Dr. Bonaccord wütend.
»Stimmt.«
»Sie hat es gestohlen.«
»Nun, zunächst einmal haben Sie Miß MacNish gestohlen.«
»Ich werde sie anzeigen.«
»Sie wissen sehr genau, daß Sie das nicht tun werden.«
Dr. Bonaccord verschlug es die Rede. Er starrte wieder auf die Fotografie, die Sir Lancelot in der Hand hielt.
»Nun?« fragte Sir Lancelot.
Dr. Bonaccord zuckte mit den Achseln.
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