Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
Thatcher dann die Ergebnisse mit den IQ-Testergebnissen der Kinder verglich, stieß er auf einen direkten Zusammenhang: Mit jeder Millisekunde, die das Gehirn länger im Rausch-Modus blieb, stieg der IQ um ganze zwanzig Punkte. Je länger das Gehirn der Probanden im Phase-Lock verharrte, desto weniger Punkte erzielten sie im IQ-Test(wobei der Unterschied nicht ganz so dramatisch ausfiel wie im umgekehrten Fall).
Thatchers Studie legt eine scheinbar absurde Schlussfolgerung nahe: Je desorganisierter das Gehirn, desto schlauer ist es. Absurd scheint diese Schlussfolgerung nicht zuletzt deshalb, weil wir die Leistungssteigerungen in der Computertechnologie immer perfekter aufeinander abgestimmter Hardware zuschreiben. Ein Werbeslogan wie »In unseren Chips rauscht es alle 55 Millisekunden gewaltig!« würde beim Kunden wohl kaum gut ankommen. Gehirne jedoch, bei denen genau dies der Fall ist, scheinen besonders schlau zu sein, zumindest was die Ergebnisse von IQ-Tests betrifft.
Es gibt noch keine fundierte wissenschaftliche Erklärung für dieses regelmäßig im Gehirn ausbrechende Chaos, aber Thatcher und auch andere Forscher glauben, dass das Gehirn während dieser Phasen mit neuen Verknüpfungen zwischen den Neuronen experimentiert, die unter anderen, geordneten Umständen nicht möglich wären. Im Phase-Lock, so die Theorie, erledigt das Gehirn Routineaufgaben, setzt vorgefasste Pläne um oder folgt bestimmten Gewohnheiten. Im Chaos-Modus verarbeitet es neue Informationen und erprobt neue Strategien, um auf veränderte Situationen zu reagieren. Demnach wäre der Chaos-Modus eine Art Traumzustand, ein Rauschen, das neue Verknüpfungen im Gehirn ermöglicht. Und selbst im Wachzustand, so fand man heraus, versinkt unser Gehirn immer wieder in Traum und Chaos – jedes Mal für etwa 55 Millisekunden.
Als William James in den späten 1880er Jahren folgende Zeilen niederschrieb, gab es noch keine Möglichkeit, Gehirntätigkeit zu messen, und doch erinnert seine Beschreibung des »höchsten Geisteszustands« an den Chaos-Modus:
»Statt Gedanken an konkrete Dinge, die gleichförmig aufeinanderfolgen, erfahren wir die abruptesten Wechsel und Sprünge von einer Idee zur nächsten, von höchsten Abstraktionen, feinsten Unterscheidungen und den unerhörtesten Zusammenstellungen … wie in einem brodelnden Kessel voll Ideen, in dem alles munter durcheinander treibt, in dem Verbindungen innerhalb eines Augenblicks geschlossen oder wieder gelöst werden. Routine ist vollkommen unbekannt, und das Unerwartete scheint das einzige Gesetz.«
Die Tatsache, dass es geschlechtliche Reproduktion gibt, kann ebenfalls als Beweis gelten, wie vorteilhaft zufällige Verbindungen für das Leben sind. Beinahe alle Lebewesen, die groß genug sind, dass wir sie mit bloßem Auge erkennen können, pflanzen sich fort, indem sie ihre Gene mit Artgenossen austauschen. Wie sich diese Fortpflanzungsstrategie im Lauf der Evolution entwickeln konnte, ist auf den ersten Blick jedoch ein wenig schleierhaft. Weit einfacher wäre es gewesen, gar nicht erst anzufangen mit so komplizierten Dingen wie Zellkernteilung und Befruchtung. Denken wir nur an das ausgeklügelte System, das Pflanzen entwickeln mussten, um mit ihren Blüten Insekten anzulocken, die ihre Pollen dann zur nächsten Blüte weitertragen. Ungeschlechtliche Fortpflanzung funktioniert im Vergleich ganz einfach. Man nehme die eigenen Zellen, fertige eine Kopie an und gebe sie an die Nachkommen weiter. Was für unsere Ohren nach einer recht freudlosen Angelegenheit klingt, hat bei Bakterien Milliarden von Jahren bestens funktioniert. Ungeschlechtliche Fortpflanzung geht schneller und ist viel energieeffizienter: Man muss nicht erst einen geeigneten Partner finden, um sich zu vermehren.
Würde die natürliche Selektion nur Lebensformen bevorteilen, die sich möglichst effektiv vermehren, hätte sich die geschlechtliche Fortpflanzung wahrscheinlich niemals entwickelt, denn geschlechtsloseOrganismen pflanzen sich durchschnittlich doppelt so schnell fort wie die Konkurrenz. Die Unterscheidung männlich/weiblich fällt weg, und jeder Organismus kann sich selbst und ohne fremde Hilfe vermehren. Doch geht es in der Evolution um mehr als pure Quantität. Überbevölkerung birgt ihre eigenen Gefahren, und größere Gemeinschaften von Organismen mit identischer DNA fallen allzu leicht Parasiten oder Räubern zum Opfer. Das sind die Gründe, weshalb Innovationskraft – jene Fähigkeit, neue ökologische
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