Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
quadratischer Formen identisch sind mit jenen der nichteuklidischen Geometrie.« Er kehrtnach Hause zurück, um mit der neuen Erkenntnis zu arbeiten, und kommt wieder nicht weiter. Es folgt der Militärdienst, den Poincaré im Fort Mont-Valérien in der Nähe von Paris ableistet. Er hat kaum Zeit, sich mit Mathematik zu beschäftigen, und doch findet er genau dort das fehlende Puzzleteil: »Eines Tages, ich ging gerade die Straße entlang, kam mir plötzlich die Lösung zu dem Problem, das mich aufgehalten hatte. Ich versuchte nicht sofort, die Sache zu vertiefen, und widmete mich der Frage erst wieder nach Beendigung meiner Dienstzeit. Ich hatte alle Elemente, ich musste sie nur noch ordnen und richtig zusammenfügen. Ich schrieb alles nieder, in einem Strich und ohne Schwierigkeit.«
Poincarés Bericht ist wahrscheinlich die spazierganglastigste Schilderung wissenschaftlicher Kreativität überhaupt. Sobald er sich an den Schreibtisch setzte, schien seine Innovationskraft zu versiegen. War er zu Fuß unterwegs, flogen ihm die Ideen nur so zu. In dem Versuch, das Phänomen zu erklären, vergleicht Poincaré seine Ideen und Ahnungen mit Atomen, die wie ein Haken an einer Wand befestigt sind. Unter normalen Umständen bleiben sie auch dort, eingefroren in fest gefügten Kombinationen. Doch wenn die Gedanken wandern (und in Poincarés Fall auch der Körper), werden sie freigesetzt. »Während Phasen scheinbarer Ruhe und unbewusster Arbeit lösen sich manche der Atome von der Wand und geraten in Bewegung. In alle möglichen Richtungen sausen sie durch den Raum … wie es ein Schwarm Stechmücken tun würde – oder, um einen gelehrteren Vergleich zu bemühen, wie die Moleküle eines Gases –, und die Kollisionen zwischen ihnen führen zu neuen Kombinationen.«
Spaziergänge können also durchaus inspirierend sein und Ideen, die wir bereits im Kopf haben, sich dabei zu etwas Neuem zusammenfügen. Aber Serendipität lässt sich auch kultivieren, während wir uns mit den Ideen und Gedanken anderer beschäftigen. Lesenist und bleibt eine ideale Methode, sich interessante Anregungen von außen zu holen. Aber wer nicht beruflich mit Bildung zu tun hat oder im Verlagswesen tätig ist, muss seine Lesezeit auf den Arbeitsalltag abstimmen, sich auf dem Weg ins Büro ein Hörbuch zu Gemüt führen oder schnell noch ein Kapitel lesen, nachdem die Kinder im Bett sind. Die Schwierigkeit, in diesen kurzen Zeitfenstern neue Ideen aufzunehmen, liegt darin, dass die Zahl möglicher Neukombinationen schon allein durch unser begrenztes Erinnerungsvermögen eingeschränkt wird. Wenn Sie beispielsweise zwei Wochen brauchen, um ein Buch komplett zu lesen, haben Sie vieles von dem, was daran interessant war, bereits vergessen, sobald sie mit dem nächsten anfangen. In die Sichtweise eines einzelnen Autors mag man sich auf diese Weise gut vertiefen können, aber Verknüpfungen zwischen den Ideen verschiedener Autoren herzustellen, ist umso schwieriger. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, ist, sich einen längeren Zeitraum frei zu halten, in dem man eine breit gefächerte Auswahl an Büchern und Texten liest. Bill Gates und dessen Nachfolger Ray Ozzie sind bekannt dafür, sich regelmäßig »Lese-Urlaub« zu nehmen. Während des Jahres sammeln sie jede Menge Material, das oft gar nichts mit ihrer Arbeit bei Microsoft zu tun hat, dann nehmen sie sich ein bis zwei Wochen frei und tauchen in den angehäuften Lesekosmos ein. Diese Form der »Druckbetankung« innerhalb weniger Tage erleichtert es, neue Ideen miteinander zu verknüpfen. Es ist eben einfacher, sich an etwas zu erinnern, das man erst gestern gelesen hat, als an eine Lektüre, die bereits ein halbes Jahr zurückliegt.
Um zu Henri Poincaré zurückzukehren: Wir können spazieren gehen oder uns in Lektüre vertiefen, beide Methoden lösen die Atome von ihren Haken und versetzten sie in Bewegung. Aber den meisten von uns ist der Luxus eines Lese-Sabbaticals nicht vergönnt, und viele stellen sich unter einem Urlaub etwas anderesvor, als Tausende von Seiten durchzuarbeiten. Dennoch könnten Arbeitgeber eines Tages den Wert eines solchen Lese-Sabbaticals erkennen, genauso wie viele Firmen ihre Mitarbeiter ermuntern, sich außerberuflich fortzubilden. Google räumt seinen Softwareentwicklern pro Woche einen Tag ein, an dem sie sich beschäftigen können, womit sie wollen. Warum sollten dann nicht auch andere einen Weg finden, ihren Angestellten die Möglichkeit zu geben, in
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