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Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)

Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)

Titel: Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Johnson
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Tagtraum, bei dem ihm der Uroboros »erschien«. Hätte er sich nicht schon seit Jahren mit der Frage herumgeschlagen, wie dieses verflixte Benzolmolekül aussehen könnte, hätte das Schlangensymbol vermutlich auch nicht die richtige Assoziation in ihm ausgelöst. Manchmal ist eine Schlange, die ihren Schwanz verschlingt, eben nur eine Schlange, die ihren Schwanz verschlingt, wie Freud es vielleicht ausgedrückt hätte. Serendipität ist auf zufällige Begegnungen und Entdeckungen angewiesen, doch diese Entdeckungen müssen sich auch mit etwas verknüpfen lassen. Sonst würden unsere Ideen weiter ziellos durch die Ursuppe schwimmen wie Kohlenstoffatome, die sich mal zu dieser, mal zu jener zufälligen Struktur verbinden, aber nie die Ringe und Gitter des organischen Lebens formen. Die Herausforderungliegt natürlich darin, in den wichtigen Bereichen eine Umgebung zu schaffen, die solche Glücksfälle begünstigt: im eigenen Kopf, in Firmen und Einrichtungen sowie den Informationsnetzwerken unserer Gesellschaft.
    Auf den ersten Blick scheint die Vorstellung, in der eigenen Gedankenwelt so etwas wie Serendipität zu erfahren, wie ein Widerspruch in sich selbst. Wäre das nicht, als würde man sich in der eigenen Wohnung verlaufen? Doch genau das ist Kekulé am Kaminfeuer passiert: Er verknüpfte zwei grundverschiedene Gedanken, die an unterschiedlichen Orten in seinem Gedächtnis abgespeichert waren, nämlich die Frage nach der Molekularstruktur des Benzols und das Bild der mythologischen Schlange Uroboros. In unserem Geist schlummert eine nahezu unendliche Zahl von Ideen und Erinnerungen, die jeden Moment an die Oberfläche treten können und das auch tun. Doch nur sehr wenige davon verhalten sich wie Kekulés Schlange und helfen uns, eine Tür zum Nächstmöglichen aufzustoßen. Die Frage lautet also: Wie kommen wir an diese Ideen heran?
    Eine Methode ist, spazieren zu gehen. Die Geschichte der Erfindungen und Innovationen ist voll mit Entdeckungen, die während Spaziergängen gemacht wurden. Ähnlich gut funktionieren langes Duschen oder ein ausgiebiges Vollbad (auch die Urmutter aller Heureka-Momente, als Archimedes eine Methode entdeckte, das Volumen unregelmäßiger Körper zu messen, ereignete sich in einer Badewanne). Duschen oder Spazierengehen schafft Abstand zum Alltag. Es entlastet uns für eine Weile von den täglichen Aufgaben des modernen Lebens wie Rechnungen rechtzeitig zu bezahlen, E-Mails zu beantworten oder den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen, und versetzt den Geist in einen eher assoziativen Zustand. Mit genügend Zeit stolpert er dann nicht selten über etwas,das wir lange übersehen haben, und wir fragen uns: Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen? Das ist Serendipität.
    In einem autobiografischen Abschnitt seiner Schriften widmete sich der französische Mathematiker und Physiker Henri Poincaré der Frage der Kreativität in der Mathematik. Das Kapitel beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung, wie Poincaré die Klasse der Fuchsschen Funktionen entdeckte, was eine der ersten großen Leistungen seiner Laufbahn als Mathematiker war. Zunächst versuchte Poincaré zu beweisen, dass Fuchssche Funktionen gar nicht existieren. Fünfzehn lange Tage mühte er sich erfolglos an seinem Schreibtisch ab. Schließlich wich er eines Abends von seinen normalen Gewohnheiten ab und trank schwarzen Kaffee. Danach konnte er natürlich nicht einschlafen, und sein Geist schäumte nur so über vor vielversprechenden Ahnungen. »Massenhaft stiegen die Ideen auf«, schreibt Poincaré. »Ich spürte, wie sie immer wieder kollidierten, bis sich Paare zu stabilen Kombinationen zusammenfügten, und bis zum nächsten Morgen hatte ich eine Klasse der Fuchsschen Funktionen gefunden, die von der hypergeometrischen Reihe abhängt.«
    Die nächste Erkenntnis – eine Verbindung zwischen den Fuchsschen Funktionen und der nichteuklidischen Geometrie – folgte ein paar Wochen später, als er in der Normandie auf einer geologischen Expedition war und gerade in den Bus stieg. Wieder zuhause, widmete er sich einer anderen mathematischen Frage und kam tagelang nicht weiter. »Angewidert von meinem Versagen«, so schreibt er, »beschloss ich, ein paar Tage am Meer zu verbringen, wo ich auf andere Gedanken kam. Eines Morgens, ich ging gerade an den Klippen spazieren, kam mir die Idee – mit derselben Kürze, Unvermitteltheit und sofortigen Gewissheit –, dass die arithmetischen Umformungen unbestimmter ternärer

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