Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
Meeresspiegel erheben und dann nur wenige Meterdarüber stehen bleiben würde. Die Höhe von Erhebungen vulkanischen Ursprungs variiert immens. Manche begnügen sich mit ein paar Metern über dem Meeresspiegel, andere wie der Mauna Kea schrauben sich bis über 4.000 Meter in den Himmel, doch die meisten durchbrechen nicht einmal die Wasseroberfläche. Wie viele Geologen seiner Zeit wusste Darwin, dass es in den Ozeanen Hunderte von Atollen gibt, die wundersamerweise alle nur wenige Meter über dem Meeresspiegel das Wachstum eingestellt hatten. Mit derselben Wahrscheinlichkeit könnte man mit verbundenen Augen hundert Fußbälle in ein Stadion werfen und hoffen, zwanzig davon würden auf dem Elfmeterpunkt liegen bleiben. Die Plattentektonik war zwar noch nicht entdeckt, aber Darwin wusste, dass die Landmassen sich weltweit ständig heben und senken. Dass diese gigantischen Kräfte sich bei Atollen vom Meeresspiegel aufhalten lassen sollten, war äußerst unwahrscheinlich. Ein Vulkan, der auf diese Weise nach oben gedrückt wird, müsste die Wasseroberfläche durchbrechen und einfach weiterwachsen, wie der Mauna Kea und viele andere es getan hatten. Genauso müsste ein versinkendes Atoll immer weiter sinken, ohne unterwegs anzuhalten. Warum blieben sie unterwegs stecken?
Wir wissen nicht genau, wann Darwin auf die Lösung kam. Es ist gut möglich, dass es passierte, während er an den weißen Stränden der Kokosinseln stand. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Idee ganz allmählich, Zentimeter für Zentimeter in ihm aufstieg – ein Teil davon vielleicht während er hinaus auf die grünen Wellen schaute. Die Theorie war ganz einfach, aber es war schwer, sie sich bildlich vorzustellen, und das hing mit einer ihrer Grundannahmen zusammen, die lautete: Atolle wurden nicht von geologischen Kräften erschaffen, sondern von winzigen Organismen.
Diese Organismen haben den wissenschaftlichen Namen Scleractinia, besser bekannt als Steinkorallen. Als lebender Einzelorganismusist Scleractinia ein Polyp mit weicher Haut und nur ein paar Millimeter lang. Steinkorallen wachsen in großen Kolonien, an deren Rand sich immer neue Polypen hinzugesellen. Ironischerweise leisten diese Korallen ihren wichtigsten Beitrag zum Ökosystem der Ozeane erst, wenn sie selbst bereits tot sind. Der Polyp lässt sich ein auf Kalk basierendes Außenskelett wachsen, genauer gesagt aus dem Mineral Aragonit, das so stabil ist, dass es seinen Erbauer um Jahrhunderte überlebt. Insofern ist ein Korallenriff ein gigantisches unterseeisches Mausoleum, eine Ansammlung von Millionen von Skeletten, die das brokkoliartige Labyrinth eines Riffs bilden.
Während seines zweiwöchigen Aufenthalts auf den Kokosinseln war Darwin aufgefallen, dass es dort nicht einen einzigen Stein oder Fels gab. In seinem Tagebuch schrieb er: »Auf der gesamten Inselgruppe trägt jedes Atom, jeder kleinste Partikel und jede noch so große gesteinsartige Formation den unverkennbaren Stempel des Organischen.« Bei der großen Mehrheit dieser Partikel und Formationen handelte es sich um Aragonitskelette – die Überreste von Korallenpolypen, die vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten abgestorben waren. Diese Tatsache allein war Beweis genug, dass Lyells Theorie nicht stimmen konnte. Hätte Darwin sich auf der Spitze eines ruhenden Unterwasservulkans befunden, hätten die Brocken zu seinen Füßen aus Basalt, Obsidian oder Bimsstein bestehen müssen, jenen Gesteinen, die sich aus abkühlender Lava bilden. Die Brocken wären einer glühenden Magmakammer entsprungen, nicht winzigen Polypen.
Dass der Boden eines Atolls im Indischen Ozean aus organischem Korallenmaterial bestand, und nicht das Produkt vulkanischer Aktivität war, bot jedoch noch keine befriedigende Antwort auf die Frage nach seiner Entstehung. Warum sollten Korallen mitten im Ozean, Hunderte von Kilometern vom nächsten Festlandentfernt, eine ovale Erhebung bilden? Um dieses Rätsel zu lösen, erweiterte Darwin Lyells Theorie um einen entscheidenden Aspekt und stellte sich vor, wie ein Vulkan ganz langsam im Meer versinkt. Während seine Flanken allmählich unter den Wellen verschwinden, werden sie zum idealen Nährboden für Korallen, die am besten im seichten Wasser bis zu einer Tiefe von etwa 30 Metern gedeihen (Korallen ernähren sich hauptsächlich von Algen, die mithilfe des Sonnenlichts Fotosynthese betreiben und deshalb nur in relativer Nähe zur Wasseroberfläche existieren können). Schließlich versinkt auch die
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