Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
der Plattform Internet zu errichten. Er musste sich nicht erst ein System ausdenken, über das Computer auf der ganzen Welt miteinander kommunizieren konnten. Dieses Problem hatten andere Jahre zuvor gelöst. Berners-Lee musste nur noch einen Standard schaffen, mit dem sich Hypertextseiten strukturieren ließen. Dieser Standard war HTML, und über das von ihm entwickelte Protokoll HTTP machte er die Seiten über die bereits existierenden Internetkanäle zugänglich. Selbst HTMLbasierte auf der bereits vorhandenen Plattform SGML, das von IBM in den 60ern entwickelt worden war. Vierzehn Jahre später, als Hurley, Chen und Karim sich zusammentaten, um YouTube aus der Wiege zu heben, fügten sie Elemente aus drei verschiedenen Plattformen zusammen: zum einen das Web selbst, hinzu kam Adobes Flash-Plattform, die für das Abspielen der Videos zuständig war, und schließlich noch die Programmiersprache Javascript, mit der die User ihre eigenen Clips hochladen konnten. Weil sie auf diese drei bereits vorhandenen Plattformen aufbauen konnten, gelang es ihnen, YouTube innerhalb von nur sechs Monaten zum Laufen zu bringen, während ein ganzes Heer von Expertengremien und Vertretern der Elektronikindustrie notwendig war, um HDTV zu realisieren.
Auch Kultur fußt auf übereinandergeschichteten Informationsplattformen. Thomas Kuhns Forschungsleitsätze sind in der wissenschaftlichen Welt das Äquivalent zu einer Softwareplattform: eine Sammlung von Regeln und Konventionen zur Definition von Begriffen, zum Sammeln von Daten und zur Festlegung der Grenzen eines bestimmten Fachgebiets. Kuhns Auffassung wurde oft als Plädoyer für eine relativistische Wissenschaft missverstanden, in der die empirische »Wahrheit« immer in Anführungszeichen steht, weil die Paradigmen im Lauf der Zeit wechseln. Für Verfechter dieser Sichtweise ist jede wissenschaftliche Erkenntnis lediglich eine Behauptung, die erst dadurch zur Wahrheit wird, dass man sie als Paradigma bezeichnet. Die Paradigmen der modernen Wissenschaft werden jedoch selten über den Haufen geworfen, viel mehr schaffen sie eine Plattform, auf der neue Paradigmen aufbauen. Darwins Selektionstheorie war »gefährlich«, wie der amerikanische Philosoph Daniel Dennett es nannte, weil sie die Schöpfungsgeschichte und das anthropozentrische Weltbild der Bibel infrage stellte, doch zeigt sich die wissenschaftliche Durchschlagskraftder Selektionstheorie schon allein an der Zahl der neuen Fachgebiete, die im Lauf des 20. Jahrhunderts auf ihr aufbauten: sowohl Populations- als auch Molekulargenetik sowie neuere Disziplinen wie Evolutionspsychologie oder die evolutionäre Entwicklungsbiologie. Oft bauen solche neuen Fachgebiete gleich auf mehreren Plattformen auf. Die Disziplin, die das darwinsche Paradoxon schließlich erklären konnte – die Ecosystem Ecology – ruht u. a. auf den Schultern der Populationsgenetik, der Systemtheorie und der Biochemie.
Selbst in der Kunst greift dieser Mechanismus. Das mag überraschend erscheinen, stellen wir uns einen Künstler doch gerne als einsames Genie vor, der zurückgezogen in einem Atelier kraft seiner Fantasie aus dem Nichts neue Welten erschafft. Künstlerische Innovation verstehen wir als einen Regelbruch, als das Aufstoßen neuer Türen zum Nächstmöglichen, von deren Existenz weniger begabte Künstler nicht einmal etwas ahnten. Aber jedes Genie braucht ein Genre. Flaubert und James Joyce brauchten den Bildungsroman, um ihn in
Die Schule der Empfindsamkeit
und
Ein Portrait
des Künstlers als junger Mann zu erweitern und teilweise auf den Kopf zu stellen. Ohne den traditionellen Folk wäre Bob Dylans
Highway 61 Revisited
gar nicht denkbar. Genres stellen ein Regelwerk zur Verfügung, in dem die Traditionalisten sich mit einer gewissen Sicherheit bewegen können. Avantgardistische Künstler hingegen spielen mit diesen Regeln. Genres sind die Plattformen und Paradigmen der Kunst, und sie werden so gut wie nie durch die Pionierleistung eines Einzelnen aus dem Boden gestampft. Sie bilden sich ganz allmählich heraus. Anfangs sind sie nur Signale, die Einzelne aussenden, und jeder von ihnen trägt etwas anderes zum großen Ganzen bei. Die Mordgeschichte gibt es seit über hundert Jahren, aber wenn man versucht, sie zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen, stößt man auf viele, die zu ihrer Entstehung beigetragenhaben: ein bisschen Poe, ein bisschen Dickens, ein bisschen Wilkie Collins und Dutzende ihrer Zeitgenossen, die es zwar nicht in den
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