Wo ist Thursday Next?
Ihre Wimperntusche war verlaufen, und den Kampf mit der Haarbürste hatte sie offensichtlich verloren.
»Ja?«, sagte sie träge. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Ich zeigte ihr Thursdays Stern. »Thursday Next«, sagte ich. »Das ist Sprockett, mein Butler. Und Ihr Name ist …?«
»Gatsby.«
Das kam unerwartet. »Der Mittlere Gatsby?«
»Nein,
Loser
Gatsby, die jüngste von den drei Gatsbys. Den Großen habe ich schon lange nicht mehr gesehen, er ist immer ziemlich beschäftigt. Wie ist es ausgegangen mit der verrückten Daisy? Ich hatte den Eindruck, dass sie viel Ärger macht.«
»Na ja … nicht so
richtig
gut, glaube ich.«
»Haben sie Mia Farrow am Ende die Rolle gegeben?«
»Ich weiß nicht genau. Ist der Mittlere Gatsby zu Hause?«
»Ich hab den blöden Wichser seit Tagen nicht mehr gesehen.« Loser schniefte und kratzte sich an der Nase. »Woher wissen Sie eigentlich, dass er verschwunden ist? Ich hab doch niemanden angerufen.«
»Dürfen wir reinkommen?«
»Von mir aus«, sagte Loser und zuckte mit den Achseln. Im Wohnzimmer lungerten ein halbes Dutzend Männer und Frauen herum, die aussahen, als wäre das Leben nicht sonderlich nett zu ihnen gewesen. Eine der Frauen hatte vor kurzem geheult, und zwei der Männer waren noch heftig dabei.
»Das ist unsere Selbsthilfegruppe für Geschwister prominenter BuchWelt-Persönlichkeiten«, erklärte Loser. »Das da ist Sharon Eyre, die jüngere und gänzlich verrufene Schwester von Jane; daneben sitzt Roger Yossarian, der Drückeberger und Feigling; dann kommt Brian Heep, der sich trotz aller Ermahnungen seiner Familieimmer noch täglich wäscht; Rupert Bond, immer noch Jungfrau, der kein Geheimnis für sich behalten kann; Tracy Capulet, die sich zweimal durch ganz Verona geschlafen hat; und Nancy Potter, die … na, sagen wir: Gegenstand zahlreicher Prozesse wegen Markenmissbrauchs und Urheberrechtsverletzungen ist.«
»Ist sie ein Muggle?«
»Ja, leider.«
Alle Anwesenden nickten höflich bei unserem Eintreten.
»Wir treffen uns zweimal täglich, um unser niedriges Selbstwertgefühl zu bekämpfen. Es ist ziemlich hart, wenn man ein Nobody ist, und die ältere Schwester oder der Bruder sind eine Ikone für alle Zeiten. Tracy Capulet war gerade dabei, uns zu erzählen, wie es in Verona so zugeht.«
»Dauernd heißt es nur ›Julia hier und Julia da‹«, sagte Tracy trotzig, »Julia steht auf dem Balkon, Julia bumst einen Montague, Julia tut so, als wäre sie tot – bla, bla, bla. Ich sag’s euch: Es geht mir total auf die Nerven.«
Sprockett schob sich ans Fenster und spähte hinaus. Die Männer in Karos würden bald da sein.
»Die Sache drängt ein wenig«, sagte ich vorsichtig. »Hat der Mittlere Gatsby ein eigenes Zimmer?«
Loser zeigte auf eine Tür, und noch ehe sie erklären konnte, dass sie verschlossen war, hatte Sprockett sie schon aus den Angeln gehoben.
Der Raum war schmutzig, und auf dem Boden lagen zerfledderte Pizzaschachteln und leere Schnapszeichendosen. Der Fernseher zeigte eine Dauerwerbesendung, und die Schallplattensammlung enthielt
Klassiker für jedermann
und den Soundtrack von
Footloose
. Der Mittlere Gatsby war etwas mittelmäßig.
»Was halten Sie davon?«, fragte Sprockett und zeigte auf ein großes Modell der Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth, deren mächtige Bögen nicht nur die beiden Ufer einer Flussmündung überspannten, sondern auch die gewaltigen Möglichkeiten menschlichen Erfindergeistes und technischen Wagemuts zeigten.
»Das ist nicht bloß eine Brücke«, flüsterte ich. »Das ist eine
Metapher
.«
Wir öffneten ein paar Kisten und fanden noch drei weitere Brücken, zwei Flüsse und eine in Nebel gehüllte Bergkette, zu der eine lange gewundene Straße hinaufführte. Loser Gatsby stand in der Tür und schaute uns mit offenem Mund zu.
»Sagen Sie, woher hatte Ihr Bruder diese Dinge?«, fragte ich.
»Weiß nicht.«
»Ehrlich nicht?«
»Ich bin ein Loser«, sagte sie. »Wenn ich von diesen Schätzen gewusst hätte, glauben Sie, ich hätte sie nicht verkauft? Ich hätte das Geld genommen, mich vollgesoffen und mir einen Delfin auf die linke Brust tätowieren lassen.«
Ihre Logik war unwiderleglich. Ich stellte ihr noch ein paar Fragen, aber sie wusste nichts.
»In zwei Minuten kommen die Männer in Karos durch diese Tür«, sagte ich ihr. »Ich glaube, dann möchten Sie lieber nicht mehr hier sein.«
Ich musste es nicht zweimal sagen. Innerhalb einer Minute waren sie und die
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