Wo ist Thursday Next?
vorsichtig. »Und vielleicht war er’s auch gar nicht. Auf jeden Fall sollten Sie Ihre Interpretation schön locker halten und nicht übertreiben. Lassen Sie die Leser selbst arbeiten. Wenn Sie alles zu erklären versuchen, können wir genauso gut aufgeben und den Leuten sagen, sie sollen fernsehen oder ins Kino gehen.«
»Waren Kobolde da?«, fragte Pickwick, sobald wir ins Haus kamen.
»Hab keine gesehen. Haben Sie welche gesehen, Miss O’Kipper?«
»Nein, nein, keinen einzigen.«
»Mrs Malaprop«, sagte ich. »Morgen zum Tee haben wir königlichen Besuch. Bitte lassen Sie das Silber putzen und backen Sie einen Kuchen.«
»Sehr Goal, Miss Nechse.«
»Hier«, sagte ich zu Carmine und gab ihr das komplette Skript meiner Rolle. »Ich muss mal eine Stunde weg. Sie können die Rolle in Ruhe studieren, und wenn ich wieder da bin, werd ich Sie abhören.«
Plötzlich sah sie sehr ängstlich aus.
»Und was ist, wenn mich plötzlich jemand zu lesen anfängt?«
»Das wird nicht passieren«, sagte ich. »Und wenn doch, sagt Ihnen Mrs Malaprop, was Sie tun müssen. Immer schön locker bleiben. Der Rest des Ensembles wird Ihnen schon weiterhelfen.«
»Was soll ich denn mit Blätterern machen?«, fragte sie mit einem Hauch von Panik in der Stimme. Alle Anfänger fürchten sich vor Text-Überfliegern, Blätterern, Seitenstechern und Letztes-Kapitel-zuerst-Lesern.
»Eine feste Regel gibt’s dafür nicht. Überflieger und Blätterer arbeiten in der Regel von vorn nach hinten, und mit einiger Erfahrung ahnt man schon, wo sie als Nächstes landen werden. Aber die Hauptsache ist, mit diesen Lästlingen nicht zu viel Zeit zu vertrödeln – mit anderen Worten: Man muss Prioritäten setzen. Wenn man solide methodische Durchschnitts-Leser und -Leserinnen gefunden hat, dann muss man ihnen sein Bestes geben. Die Blätterer und Überflieger müssen eben warten, wenn es mal einen Stau gibt. Wenn die Krise vorbei ist, kann man sie immer noch abholen.«
»Und Studenten?«
»Ein Kinderspiel. Sie halten nach jedem Satz an und denken stundenlang nach. Also kann man bei jedem Punkt eine Pause machen und sich um die anderen kümmern. Sie werden immer noch über Intertextualität, Erzählstrategien und die skandalösenBierpreise in der Mensa nachdenken, wenn man zurückkommt.«
Sie sagte nichts und wirkte sehr aufmerksam, deshalb fuhr ich fort.
»Man darf aber niemanden diskriminieren. Ich sage immer: Behandle die Leute, die beim Lesen die Lippen bewegen, genauso wie den Kritiker vom
Times Literary Supplement.
Am Anfang können Sie die beiden vielleicht noch nicht unterscheiden, aber das lernt man sehr schnell. Yossarian sagt, dass man die einzelnen Leser daran erkennen kann, wie sie dich lesen. Man darf natürlich nicht vergessen, dass er schon lange dabei ist, und es gibt sehr viele Leute, die
Catch 22
mehrmals lesen.«
»Sie kennen Yossarian?«
»Na ja, er hat einen Vortrag gehalten und ich hab gesehen, wie er rausging. Ich hab seinen Fuß gesehen.«
»Den rechten oder den linken?«
»Den linken.«
»Ich hab mal jemandem getroffen, der von Sir John Falstaff wassan denk Opfge kriegt hat«, sagte Mrs Malaprop, um zu zeigen, dass sie auch schon Kontakt mit der Prominenz gehabt hatte.
»Ich hab mal mit jemanden geredet, der drei Seiten lang Polyannas Hut in der Hand hatte«, erzählte Carmine.
»Das ist doch alles Pillepalle«, erklärte Pickwick großspurig. »Sam Spade hat persönlich mit mir gesprochen.«
Alle schwiegen beeindruckt.
»Was hat er denn gesagt?«
»Er hat gesagt: ›Schafft diesen dämlichen Vogel hier weg!‹«
»Tja, da soll doch der Teufel mein Mündel entführen«, sagte Mrs Malaprop, und der Sarkasmus sorgte ausnahmsweise für eine untadelige Aussprache. »Mit der Geschichte können Sie ein Jahr lang auswärts dinieren.«
»Sie ist jedenfalls besser als Ihre dämliche Falstaff-Geschichte.«
»Woran man vor allem denken muss«, sagte ich, um den Streit zu beenden, ehe es zu Beleidigungen, zerschlagenem Geschirr, Geschrei oder Schlägen kam. »Je mehr Leser da sind, umso einfacherwird es. Wenn man sich entspannt, macht es sogar richtig Spaß. Die Worte springen einem geradezu auf die Lippen, und man kann sich ganz darauf konzentrieren, nicht nur eine gute Vorstellung zu geben, sondern sich auch noch um alle Problemleser kümmern – egal ob sie nun selbst Probleme haben oder dir welche machen wollen, indem sie das Buch zu verändern versuchen. Sie werden sich noch wundern, wie stark die
Weitere Kostenlose Bücher