Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
verzierte Garderobe in der Diele. Die Wände des schmalen Raumes waren über und über mit gerahmten Fotografien behängt, von denen einige ein um viele Jahre jüngeres Ehepaar Bolander zeigte, während auf anderen wiederum die Kinder und Enkelkinder abgebildet waren.
Finja bemerkte, dass sich bei diesem Anblick ein Schmunzeln auf Sanders Gesicht legte. Eine solche familiäre Atmosphäre war er ganz einfach nicht mehr gewohnt. In New York befanden sich Anwaltskanzleien in riesigen Hochhäusern, und allein das Büro eines Juniorpartners war größer als dieses Einfamilienhaus hier.
Ob er noch manchmal an seine Zeit in Schweden zurückdenkt?, fragte Finja sich unweigerlich. Wohl kaum, beantwortete sie die Frage sogleich selbst. Wahrscheinlich ließ ihm sein Unternehmen gar keine Zeit dazu. Finja hingegen grübelte oft über die Vergangenheit nach, obwohl auch sie beruflich mit ihrer Kunstgalerie stark eingespannt war. Doch wenn sie abends allein in ihrem Penthouse saß, dachte sie daran, wie sie in Dvägersdal aufgewachsen war. Daran, wie harmonisch es früher in ihrer Familie zugegangen war, an die Schulzeit … Doch immer kam ihr dann auch Audrey in den Sinn. Audrey, die als junges Mädchen spurlos verschwand, nachdem die elfjährige Finja sie kurz zuvor zum Teufel gewünscht hatte.
Doch jetzt war weder der passende Ort noch der richtige Zeitpunkt, um über diese alte Geschichte nachzudenken. Trude Bolander führte sie zu einem Raum ganz am Ende des Korridors, dessen Tür einen Spalt weit offen stand. Schon von Weitem hörte Finja die durchdringende Stimme eines Mannes:
“Wenn du nicht bald still sitzen bleibst, setzt es was! Haben deine Eltern dir denn überhaupt keine Manieren beigebracht? Ich …”
Mats Bjorkman, der Schwiegervater ihrer verstorbenen Schwester, ein grobschlächtiger Kerl Ende fünfzig mit breiten Schultern und schlechter Haut, verstummte abrupt, als Finja und Sander den Raum betraten. Seine Frau Sybilla zeigte da weitaus weniger Zurückhaltung. “Na, wen haben wir denn da?” Sie musterte Finja feindselig. “Wenn das nicht Gretas verlorene Schwester ist …”
“Tante Finja!” Der kleine Junge, der zwischen dem älteren Ehepaar gesessen hatte, sprang auf. Ehe einer seiner Begleiter ihn daran hindern konnte, kam er auf Finja zugelaufen und umschloss mit beiden Armen ihre Hüften.
Vor lauter Rührung bekam Finja einen Kloß im Hals, der sich auch durch heftiges Schlucken nicht vertreiben ließ. Sie kniete sich hin und schenkte dem Kleinen, der auffallend blass und dünn aussah, ein liebevolles Lächeln. “
Hej
, Linus”, sagte sie und umarmte ihn sanft.
Wie schon auf der Beerdigung vor drei Wochen, stellte sie fest, dass der Junge seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Dieselben hellblauen Augen, die von langen Wimpern beschattet wurden, und das gleiche goldblonde Haar. Ach, wenn wir uns doch nur schon eher kennengelernt hätten, dachte Finja im Stillen, und die Schuldgefühle drohten sie zu überwältigen. Es war ja keineswegs so, dass sie in den letzten Jahren keine Zeit gehabt hätte, nach Hause zu kommen. Sie war sogar ab und zu gleich für mehrere Wochen in Stockholm gewesen. Nein, der Grund dafür, dass sie zuvor noch keinen Kontakt zu ihrem Neffen gehabt hatte, lag einfach darin, dass sie sich mit ihrer kompletten Familie zerstritten hatte. Allen voran mit Greta. Jetzt fragte sich Finja, ob das alles nötig gewesen war. Hätte sie nicht von sich aus einen Schritt auf sie zugehen können? Sollte man nicht auch einfach mal verzeihen können?
Entschieden schüttelte sie den Kopf. Nicht nach dem, was erst Greta und dann ihre Eltern ihr angetan hatten. So etwas konnte man nicht einfach auslöschen, als sei nichts gewesen!
Finja spürte, wie ihr die Tränen kamen, doch sie drängte sie zurück. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben – nicht in der Gegenwart von Gretas Schwiegereltern.
Nachdem Linus sich von ihr gelöst hatte und nur noch ihre Hand hielt, schaute er schüchtern zu Sander auf. Für einen Fünfjährigen musste Finjas Mann mit seinen ein Meter neunzig wie ein Riese wirken. “Und wer bist du?”, fragte Linus, ohne Finjas Hand loszulassen.
Zu ihrer Überraschung ging auch Sander in die Knie. Offenbar spürte er, dass seine Größe dem Jungen ein wenig Angst bereitete, und wollte es ihm auf diese Weise leichter machen. Finja war erstaunt, so viel Einfühlungsvermögen hatte sie ihm überhaupt nicht zugetraut.
“Mein Name ist Sander”, erwiderte
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