Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
Gleichgültigkeit zu durchbrechen und irgendwann eine aktive Trauerarbeit einzuleiten war dann die Aufgabe nahestehender Erwachsener.
Doch das war nicht das Einzige, was Finja in diesem Moment durch den Kopf ging. Linus’ Gegenwart brachte sie immer wieder dazu, auch über sich selbst nachzudenken. Kinder hatten seit jeher zu ihrer Lebensplanung gehört. Sie wünschte sich mindestens zwei – doch so wie die Dinge zwischen Sander und ihr standen, würde sich der Traum von einer Familie und einem Häuschen im Grünen wohl nie erfüllen. Jedenfalls nicht, solange sie beide weiter an etwas festhielten, das im Grunde schon lange nicht mehr existierte.
Doch Finjas Entschluss stand ja ohnehin bereits fest: Sie wollte diese Ehe nicht mehr, würde ihr so schnell wie möglich ein Ende bereiten. Allerdings fragte sie sich durchaus, warum ihr trotz allem schon bei dem Gedanken an die Scheidung so kalt ums Herz wurde.
Zudem wunderte sie sich, was dieser rätselhafte Brief ihrer Schwester zu bedeuten hatte. Wofür hatten Greta und Paul ihre Gründe? Finja konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Lennart Bolander, der hinter seinem wuchtigen Schreibtisch noch kleiner als ohnehin schon aussah, räusperte sich vernehmlich und bat um Aufmerksamkeit. Anschließend verlas er eine Erklärung von Finjas Eltern, die in der typisch nüchternen Art ihres Vaters Edvard verfasst worden war. Finja fand darin zwar Erwähnung, jedoch wurde mit keiner Silbe auf das eingegangen, was damals zum Zerbrechen der Familie geführt hatte.
Kein Wort der Entschuldigung, keine Annäherung. Nichts, was Finja hätte helfen können, mit der Tatsache zurechtzukommen, dass es keine Aussprache von Angesicht zu Angesicht mehr geben würde.
Der Großteil des Erbes war von ihren Eltern an Greta übertragen worden, während Finja lediglich den gesetzlichen Pflichtteil erhalten sollte. Da Greta aber nun nicht mehr in der Lage war, das Erbe anzutreten, ging fast das gesamte Familienvermögen an Linus über, der es zu seinem achtzehnten Geburtstag erhalten sollte.
Das Haus, das Geld, die Wertpapiere. Durch den Tod seiner Großeltern und Eltern war Linus zu einem sehr vermögenden Jungen geworden.
Armer reicher Junge …
Finja spürte erst, dass sie weinte, als ihr die Tränen auf die in ihrem Schoß gefalteten Hände tropften. Rasch wischte sie sich über die Wangen, doch Sander hatte trotzdem bemerkt, wie es um sie stand. Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft.
Gleichermaßen überrascht und gerührt von seiner Anteilnahme, wehrte Finja seine vertrauliche Geste nicht ab. Es tat einfach gut, diesen schrecklichen Augenblick nicht allein durchstehen zu müssen. Und zum ersten Mal seit Langem fühlte sie fast so etwas wie Verbundenheit zwischen Sander und sich.
“Kommen wir nun zur Vormundschaftsfrage für den kleinen Linus”, sagte der Notar schließlich, nachdem die Aufteilung des Erbes abgeschlossen war. “Es wurde entschieden, dass das Sorgerecht auf die hier anwesenden Eheleute Sander und Finja Sommerdal, geborene Elmerson, zu übertragen ist.” Finja hatte das Gefühl, die Stimme des Notars wie durch eine dicke Watteschicht zu hören.
“Was?”, stieß Finja heiser aus. Verständnislos schaute sie erst den Notar, dann Sander an, dem der Schock ins Gesicht geschrieben stand. “Aber … Aber wie kann das sein?”
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wirklich registrierte, was die Worte des Notars zu bedeuten hatten. Dann spürte sie, wie ihr die Kehle trocken wurde, und schluckte angestrengt.
Sie musste sich verhört haben! Sander und sie sollten …? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das konnte unmöglich Gretas Ernst sein!
Sie atmete tief durch und wartete darauf, dass Sander irgendetwas sagte, doch der saß stocksteif auf seinem Stuhl und blickte starr geradeaus. Was sollte er auch sagen? Er musste sich schließlich ebenso überrumpelt fühlen wie sie selbst!
Es war Linus’ Großvater, der die Stille durchbrach. “Das ist unerhört!”, schimpfte er und sprang wild gestikulierend von seinem Platz auf. “Das lasse ich nicht zu!” Seine Frau nickte nur zustimmend.
Finja, die eben noch wie erstarrt und nicht in der Lage gewesen war, einen klaren Gedanken zu fassen, spürte, wie etwas in ihr zu rebellieren begann. Wut stieg in ihr auf. Wie konnte Mats Bjorkman es wagen, den letzten Willen seines eigenen Sohnes als unerhört zu bezeichnen? Besaß dieser Mann denn überhaupt keinen Anstand?
“So beruhigen Sie sich doch!”,
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