Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
lächelnd. “Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehen die Menschen unten auf der Straße wie winzige Ameisen aus.”
Linus kicherte, was ihm einen tadelnden Blick seiner Großmutter einbrachte, die jedoch schwieg.
Sander schüttelte den Kopf. Es tat ihm leid, mit anzusehen, wie lieblos Linus’ Großeltern mit dem Jungen umgingen. Ob sie immer so waren? Oder nur jetzt, weil Finja sich in der Nähe aufhielt? Vielleicht täuschte der Eindruck auch bloß. Immerhin hatten die beiden erst vor wenigen Wochen ihren Sohn verloren. Sicher saß der Schmerz noch tief.
Wehmütig dachte Sander bei Linus’ Anblick daran, dass er selbst sich im Grunde seines Herzens ebenfalls Kinder wünschte. Bereits als junger Mann hatte er gewusst, dass er eines Tages einmal eine große Familie haben wollte – ein Haus voll mit fröhlichem Kinderlachen. Doch was war daraus geworden?
Scharf sog Sander die Luft ein, als er an seine Ehe dachte, die schon seit Langem nur noch auf dem Papier bestand. Und was war der Grund dafür? Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Bis heute ahnte Finja nicht, dass er längst wusste, warum sie ihn in Wirklichkeit geheiratet hatte. Sie glaubte, seine Arbeit sei schuld daran, dass er sich so gut wie nie Zeit für sie nahm. Dass er ihr keinen Respekt entgegenbrachte und sie wie Luft behandelte, und das schon seit Jahren. Dabei wollte er sie mit seinem Verhalten einfach nur bestrafen – für das, was sie ihm angetan hatte.
Doch jetzt schien ausgerechnet ihr Neffe ihm klarzumachen, dass es so nicht weitergehen konnte. Er schadete mit seinem Verhalten nicht nur Finja, sondern auch sich selbst. Er versprach sich mehr vom Leben als eine Ehe, die sowohl ihm als auch Finja nichts mehr brachte. Er wünschte sich Kinder, eine glückliche Familie … Ja, das war sein Wunsch. Ein Wunsch, den er sich mit Finja niemals würde erfüllen können.
War es nicht an der Zeit, diese Farce endlich zu beenden? Anfangs hatte es Sander eine gewisse Genugtuung bereitet, Finja leiden zu sehen. Er hatte genau gespürt, wie weh es ihr tat, dass er sie nicht mehr an sich heran ließ und sich stattdessen in seine Arbeit vergrub. Diesen Schmerz hatte er genossen.
Aber inzwischen stellte das alles für ihn eine mindestens ebenso große Belastung dar wie für sie. So wollte und konnte er nicht den Rest seines Lebens weitermachen. Und deshalb stand für ihn fest, dass er dem Ganzen ein Ende bereiten musste, und zwar so schnell wie möglich.
Entschlossen nickte Sander. Noch heute Abend würde er mit Finja ein klärendes Gespräch führen. Sie mussten endlich Nägel mit Köpfen machen. Alles, was er noch von ihr wollte, war die Scheidung. Und dann würde er Finja und seine Vergangenheit in Schweden endgültig hinter sich lassen. Wieder fragte er sich, warum er heute überhaupt hier sein musste und warum seine Anwesenheit bei der Testamentsverkündung so dringend erforderlich war.
Er atmete tief durch. Nun, was es auch sein mochte, er würde es hinter sich bringen und dann endlich den Start in ein neues Leben wagen.
Ein Leben ohne Finja.
Eine halbe Stunde später saßen Finja, Sander und Linus’ Großeltern dem Notar in dessen Büro gegenüber. Linus hielt sich nicht im Raum auf; Trude Bolander hatte ihm angeboten, ihr beim
Pepparkakor
-Backen zu helfen, und der Kleine war ihr brav in die Küche gefolgt. Wie alle Kinder liebte er frisch gebackene Pfefferkuchen. Und natürlich war das allemal besser, als wenn er bei der Testamentsverkündung anwesend gewesen wäre, fand Finja.
Immer wenn sie an Linus dachte, verspürte sie grenzenloses Mitleid. Wie schlimm musste es für den kleinen Jungen gewesen sein, zu erfahren, dass seine geliebten Eltern nicht mehr da waren. Bestimmt vermisste er auch seine verstorbenen Großeltern ganz schrecklich.
Meine Eltern …
Finja spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zum Tag der Beerdigung zurück. Als sie vor den offenen Gräbern gestanden hatten, war ihr zum ersten Mal wirklich bewusst geworden, dass sie niemanden aus ihrer Familie je wiedersehen würde. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre zusammengebrochen.
Doch dann hatte sie den tapferen kleinen Linus gesehen und sich zusammengerissen.
Auch heute merkte man dem Fünfjährigen kaum etwas an. Doch Finja war klar, dass das nichts bedeuten musste. Kinder trauerten anders als Erwachsene, bei ihnen trat die Phase der Verdrängung früher ein, oft schon wenige Tage nach dem Verlust. Die scheinbare
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