Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
Frau an, doch die verließ bereits mit hoch erhobenem Kopf das Zimmer. Finja atmete tief durch und versuchte, das überwältigende Schwächegefühl, das plötzlich von ihr Besitz ergriffen hatte, in den Griff zu bekommen. Natürlich wusste sie, worauf Sybilla anspielte. Immerhin war es ihr Sohn Paul gewesen, der Finja nach Audreys Verschwinden psychologisch betreut hatte.
Zumindest so lange, bis das zarte Band des Vertrauens, das zwischen ihnen entstanden war, durch seinen Verrat zerstört wurde …
Aber wie konnte es sein, dass seine Eltern davon Kenntnis hatten? Oder wusste Sybilla am Ende überhaupt nichts? Hatte sie nur die Tatsache, dass Finja früher einmal bei Paul in Behandlung gewesen war, dazu genutzt, um sie anzugreifen?
Ein Frösteln überlief Finja, und sie schlang beide Arme um den Körper. Das war alles zu viel für sie! Viel zu viel!
“Ist alles in Ordnung mit Ihnen?”
Mit einem Mal konnte sie den mitfühlenden Blick von Lennart Bolander nicht länger ertragen. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und schlug sich die Hand vor den Mund, um ein Aufschluchzen zu unterdrücken. Dann stürmte sie an ihm vorbei aus dem Zimmer.
Erst als sie hinaus auf die Straße trat, konnte sie wieder frei atmen. Sie sah Sander, der am Ufer des Lillälv stand. Versonnen betrachtete er das sprudelnde Wasser des Wildbachs, der aufgrund der Schneeschmelze in den Bergen enorm angeschwollen war. Sie brauchte keine Gedankenleserin zu sein, um zu erahnen, was in Sanders Kopf vor sich ging. Wenn die jüngsten Entwicklungen selbst sie völlig überrumpelt und erschüttert hatten, wie musste es ihm dann erst gehen?
Sie ging zu ihm und legte ihm von hinten eine Hand auf die Schulter. Doch Sander schüttelte sie unwillig ab und drehte sich zu ihr um. “Kannst du mir sagen, wie das funktionieren soll?” Fragend sah er sie an. “Ich habe eine Firma zu leiten, verdammt! Und das mit uns beiden …”
Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen zwischen ihnen in der Luft hängen. Finja wusste, was er sagen wollte. Sie wusste es sogar sehr gut. Und er hatte ja recht! Noch vor wenigen Minuten hatte sie darüber nachgedacht, nach ihrer Rückkehr in die USA sofort die Scheidung einzureichen.
Anstatt eine Erwiderung abzuwarten, wandte Sander sich von ihr ab und ging zu dem Mietwagen. Wie betäubt folgte Finja ihm. Sie fühlte sich wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte.
Ein paar Minuten lang fuhren sie schweigend, doch die Stimmung war so angespannt, dass die Luft zu knistern schien. An der einzigen Ampel von Dvägersdal, die den Verkehr an der Kreuzung zwischen
Byvägen
und
Tvärgatan
regelte, mussten sie halten. Sander schlug mit den flachen Händen aufs Lenkrad und stieß einen unartikulierten Fluch aus.
“Das ist einfach unmöglich!”, schimpfte er. “Unmöglich, hörst du? Ich kann nicht einfach all meine Verpflichtungen vergessen, in ein kleines Kaff in Mittelschweden ziehen und mit dir und dem Jungen auf heile Familie machen!”
Finja traten Tränen in die Augen, und sie blinzelte heftig. Was glaubte er denn, wie es ihr ging? Es war nicht der Gedanke, nach Schweden zurückzukehren, der sie so schreckte. Damit hätte sie durchaus leben können. Aber eine Zukunft hier in Dvägersdal, mit all den düsteren Erinnerungen, und noch dazu gemeinsam mit Sander …
“Ich weiß doch auch nicht, wie wir das schaffen sollen!”, gab sie verzweifelt zurück. Dann öffnete sie die Beifahrertür und stieg aus dem Wagen. Im nächsten Augenblick sprang die Ampel auf Grün um, und Sander fuhr los, ohne sich noch einmal nach ihr umzublicken.
Endlich ließ Finja ihren Tränen freien Lauf.
Der See wurde vom Lillälv und einigen kleinen Bächen gespeist, die in den Bergen entsprangen. Das Wasser schimmerte in einem eisigen Türkisblau und war so klar, dass man selbst Meter vom Ufer entfernt noch bis auf den Grund blicken konnte. Im Sommer, wenn die Temperaturen endlich die Zwanzig-Grad-Marke überstiegen, kamen die Menschen aus Dvägersdal hierher, um sich zu sonnen oder zu schwimmen. So früh im Jahr aber, kurz nach dem Ende der Schneeschmelze, verirrten sich höchstens einmal ein paar Angler an diesen Ort. Doch selbst die schienen heute zu Hause geblieben zu sein.
Sander hatte den See ganz für sich allein.
Er war nach seinem Streit mit Finja nur kurz zur Pension gefahren, um seine Schwimmsachen zu holen. Jetzt hechtete er mit einem eleganten Sprung ins Wasser. Für einen Moment raubte die eisige
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