Wo niemand dich findet
er zu offen gewesen war. Was ging nur in ihrem Kopf vor? Dass es ihm egal war, wenn ein Kollege, den er einmal sogar als einen Freund bezeichnet hätte, gleich für mehrere Morde verantwortlich war? Wenn er seine Stellung als Polizeibeamter missbrauchte?
Er sah ihr an, dass er sie kalt erwischt hatte. Das war für ihn nicht ohne Ironie. Sie hatte mit ihm geschlafen. Sie hatte das Intimste mit ihm geteilt, ihren Körper. Dennoch musste sie die ganze Zeit gedacht haben, er sei ein hinterhältiger Mistkerl, dem die ganze Angelegenheit vollkommen gleichgültig war.
Natürlich bedeutete ihm der Fall etwas.
Aber noch mehr bedeutete sie ihm, und dieses Bekenntnis konnte sie nur schwer verkraften.
Sie hielt ihr Handy ein Stück weit von ihrem Ohr weg und blickte mit gerunzelter Stirn auf das Display.
»Wer sagten Sie, sind Sie?«, sprach sie wieder in das Telefon. Schweigen. »Ihr Ansprechpartner bei was?«
Nathan bemerkte, dass sie noch angespannter wurde, als sie auf die Uhr sah.
»Ich glaube nicht …« Sie wurde offenbar unterbrochen und hielt inne. Dabei warf sie ihm einen besorgten Blick zu. »Warten Sie mal.« Sie stellte das Telefon auf stumm. »Weißt du, wo die St. Louis Cathedral ist?«, fragte sie Nathan.
»Nur ein Steinwurf von hier. Warum?«
»Am Telefon ist eine Frau, die mich in zehn Minuten da treffen will.«
»Wer?«
»Sie behauptet, eine Freundin von Melanie zu sein. Sie sagt, es sei wichtig.«
»Du hast doch gesagt, Melanie hat keine Freunde.«
»Das hab ich auch geglaubt«, entgegnete Alex. »Aber diese Frau ist offenbar ihre frühere Ansprechperson bei den Anonymen Alkoholikern. Vielleicht ist Melanie wegen ihr nach New Orleans gekommen?«
»Das kommt mir seltsam vor«, meinte Nathan. Was höflich ausgedrückt war. »Sie könnte irgendwer sein. Sie könnte sogar mit Coghan zusammenarbeiten.«
Alex schürzte die Lippen und ging wieder ans Telefon. »Ich komme«, versprach sie der Anruferin. »Aber ich bringe einen Bodyguard mit. Und der ist bewaffnet. Schwer bewaffnet.« Sie hörte noch ein paar Sekunden lang zu und legte auf.
»Deinen Bodyguard?«
Sie ließ das Telefon in die Handtasche fallen und erhob sich. »Deswegen bist du doch da, oder? Um meinen Babysitter zu spielen? Na los, jetzt ist die Gelegenheit.« Sie holte ein paar Scheine aus ihrem Geldbeutel und
wollte sie auf den Tisch legen, aber Nathan war schneller. Nach einem letzten Schluck Bier folgte er ihr zum Ausgang.
»Wie weit ist es zu dieser Kathedrale?«, fragte sie im Gehen.
»Ist ganz nah. Aber du gehst da nicht hin, ehe ich die Lage sondiert habe.«
»Nathan …«
»Keine Widerrede. Ich rufe einen Freund bei der Polizei in New Orleans an, die sollen einen Streifenwagen hinschicken und den Platz im Auge behalten.«
Sie traten aus der klimatisierten Bar in den feuchtschwülen Nachmittag. Alex sah auf die schon schräg stehende Sonne. »Ich hoffe, das dauert nicht allzu lange. Ich möchte möglichst bald ins Krankenhaus.«
Nathan legte ihr die Hand auf den Rücken und schob sie zur Straße. »Wie hieß die Frau noch mal?«
»Peggy.«
»Peggy was?« Er dirigierte sie weiter zum Jackson Square.
»Hab ich nicht gefragt«, meinte Alex. »Sie hat bloß gesagt, es sei wichtig. Vielleicht hat sie Melanies Wertsachen. Irgendwelche wichtigen Unterlagen, die sie hier in der Stadt verwahrt hat.«
Nathan nahm sein Handy und rief den Kollegen an. Nach einem kurzen Gespräch legte er wieder auf.
»Im French Quarter sind immer mehrere Streifen unterwegs. Er schickt einen Wagen zur Kathedrale, der nachsieht.«
»Prima.« Alex beschleunigte ihre Schritte.
Dennoch war Nathan alles andere als glücklich. Immer
wieder sah er sich um, hielt nach Verdächtigem Ausschau.
Dabei sah alles verdächtig aus, immerhin waren sie im French Quarter. In nicht einmal fünf Minuten beobachtete er zwei kleine Drogendeals und registrierte, wie jemand eine Prostituierte mitnahm. Doch als sie ihr Ziel erreichten, stand schon ein Streifenwagen am Platz vor der St. Louis Cathedral. Nathan sah den Beamten am Steuer an und nickte ihm zu.
»Da ist sie«, sagte Alex.
»Wo?«
»Rotes T-Shirt, weiße Schirmmütze.«
»Woher weißt du das?«
»Na, sie hat mir gesagt, dass sie das anhat.«
Die Frau in rotem T-Shirt und mit weißer Schirmmütze erwartete sie auf einer Bank gegenüber der Kathedrale. Neben ihr saß eine junge Frau mit einem Kinderwagen und einem Kleinkind, das Brotkrumen an Tauben verfütterte. »Peggy« schien gute sechzig zu sein.
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