Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
dem Zug stiegen und dicke Atemwolken in die Luft pufften. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie die Buchstaben auf dem Bahnhofsschild zu entziffern, aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
»Komisch, dass einem Russisch so fremd vorkommt«, murmelte sie vor sich hin. »Und es macht mich wahnsinnig, dass ich nicht mal die Schilder hier lesen kann.«
Dann folgte ihr Blick einer Frau, die rasch den Bahnsteig entlangging, die Hände in den Taschen, die Arme eng an den Seiten. Schwarzes Haar, das sich wie Blütenblätter um ihren Kopf ringelte, und ein eleganter Strickmantel.
»Dr. Starowa!«, Sophie hämmerte gegen das Fenster.
Die Augen der Frau huschten kurz zu ihrem Wagen herüber, aber sie ging einfach weiter.
»Das kann doch nicht Dr. Starowa gewesen sein«, sagte Marianne und rutschte auf ihrem Sitz herum. »Sie wollte uns doch nur heißen Tee holen.«
»Und warum muss sie dazu aussteigen?«, fragte Delphine verwirrt. »Das kann sie nicht gewesen sein.«
Der Zug ruckte an und rollte aus dem Bahnhof.
»Hat jemand gesehen, dass sie wieder eingestiegen ist?«, fragte Sophie. Die anderen beiden schüttelten die Köpfe.
Eine Weile saßen sie schweigend da und warteten darauf, dass Dr. Starowa den Vorhang zurückziehen und in ihr Abteil treten würde.
Nach ein paar Minuten sagte Sophie: »Sie kommt nicht.«
»Russland hat einhundertvierzig Millionen Einwohner«, murmelte Marianne. »Das war bestimmt nur jemand, der ihr ähnlich sieht. Eine Doppelgängerin.«
Sophie schüttelte den Kopf. »Lass nur, Marianne. Das war Dr. Starowa auf dem Bahnsteig draußen, hundertprozentig. Sie hat uns einfach im Zug zurückgelassen.«
Eine beklommene Stille trat ein. Sophie spürte, wie ihr Herz im Rhythmus des Zuges Fahrt aufnahm. Immer weiter rollten sie vom Bahnhof fort, immer schneller ratterten sie durch den wirbelnden Schnee in eine grenzenlos weite, leere Landschaft hinein. Aber wo in aller Welt fuhren sie hin?
Irgendwann hielt Sophie es nicht mehr aus und stand auf.
»Was machst du da?«, fragte Marianne.
Sophie wusste es selber nicht. Sie starrte aus dem Fenster, aber nur ihr eigenes Gesicht schaute zu ihr zurück.
Delphine sagte: »Du hast dich getäuscht, Sophie, ganz bestimmt. Dr. Starowa muss noch im Zug sein, weil … also wenn sie aussteigen würde …« Mit großen, leeren Augen und kalkweißem Gesicht drehte sie sich zu Marianne um. »Hast du vielleicht eine Ahnung, wo wir hinfahren?«
Marianne schaute auf ihre Fahrkarte hinunter. Angestrengt studierte sie die Schrift. »Ich hab doch das Alphabet auswendig gelernt«, flüsterte sie. »Warum kann ich nicht lesen, was hier steht?«
Sophie setzte sich wieder hin und wartete schweigend, so wie Delphine.
Nach einer endlos langen Minute blickte Marianne auf. Sie war den Tränen nahe. »Ich bin doch wirklich nicht dumm«, wisperte sie. »Das weiß ich. Und trotzdem versteh ich nicht, was auf der Fahrkarte steht.« Ratlos nahm sie ihre Brille ab und rieb sich die Augen.
»Ich glaube, da steht St. Petersburg«, sagte Sophie und zeigte auf die obere linke Ecke.
»Ja, klar, das seh ja sogar ich«, stimmte Delphine zu. »Es sind zwei Wörter.«
Marianne nagte an ihrer Lippe. »Tut mir leid«, murmelte sie. Dann faltete sie die Fahrkarte zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Ihr Gesicht sah ganz eingefallen aus. »Was machen wir denn jetzt?«, flüsterte sie.
Sophie dachte angestrengt nach, aber ihr Kopf war ein Chaos aus wirbelnden Flocken, so wie die dunkle Landschaft draußen. Was war da nur passiert? Sie fand einfach keine Erklärung dafür. Die Spiegelbilder der drei Mädchen im Fenster sahen winzig klein in dem großen Zug aus, der einsam durch die Nacht brauste.
»Am besten rufen wir einen Schaffner«, schlug Delphine schließlich vor. Sie stand auf und zog den Vorhang zurück. Dann trat sie in den Gang hinaus, hielt aber plötzlich inne. »Oh, Mist – wie sollen wir ihm das nur erklären? Wir können doch gar kein Russisch«, stieß sie hervor.
Sophies Russischkenntnisse beschränkten sich auf ganze drei Wörter. »Wir müssen es ihm einfach irgendwie begreiflich machen«, sagte sie.
»Was begreiflich machen?« Delphine sah aus, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde. »Dass wir im Zug ausgesetzt wurden? Dass wir nicht wissen, wo wir hinfahren?«
Sie kam ins Abteil zurück und setzte sich. Dann nahm sie ihren Hut ab und fuchtelte hilflos mit den Händen in der Luft herum.
Marianne zog ihre Stirn in Denkerfalten.
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