Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
Sekunden begann das Wasser im Kessel zu zischen. Ivan stellte Gläser auf ein Tablett, dazu eine Schale mit rubinroter Marmelade, und drehte den Hahn am Ausguss. Im nächsten Moment sprudelte kochend heißer Tee in das erste Glas.
»Nimm einen Löffel Marmelade in deinen Tee«, sagte Ivan mit einem aufmunternden Lächeln zu Sophie. »So trinken wir ihn in Russland!«
Sophie rührte Marmelade in die dunkle, dampfende Flüssigkeit, dann führte sie ihr Glas an die Lippen und atmete den herben, rauchigen Geruch ein. Es duftete ein wenig nach Baumrinde, nur süßer – wie in Zucker getaucht. Aber nach dem ersten Schluck schmeckte es nach mehr, und Sophie genoss die wohlige Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete und die ganze aufgestaute Kälte vertrieb.
Ivan Ivanovitsch lächelte. »Jetzt siehst du, wozu unser russischer Tee gut ist!«, sagte er. »Er bringt die Wärme in den Körper zurück. Das ist sehr wichtig, wenn es draußen minus zwanzig Grad hat.« Er schenkte sich selbst ein Glas ein, löffelte Marmelade dazu und rührte den Tee um. Sein Gesicht wurde plötzlich wieder ernst. »Und natürlich ist Tee das beste Heilmittel gegen toska .«
Marianne biss ein Stück von ihrem Blini ab und schaute Ivan verwirrt an. »Was ist toska ?«, fragte sie.
»Tja, das Wort lässt sich leider nur schwer in eure Sprache übersetzen. Es ist ein Ausdruck für die Schwermut und Traurigkeit der russischen Seele. Und als Heilmittel gegen dieses Übel trinken wir Tee!« Er hob sein Glas, wie um ihnen zuzuprosten, und fügte hinzu: »Oder wir schauen in ein hübsches junges Gesicht!«
»Ja, aber Sie haben uns immer noch nicht erklärt …«, platzte Sophie heraus. »Ich meine, es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie den ganzen Weg hierhergekommen sind, um uns abzuholen, und Sie sind sehr freundlich zu uns. Aber wir wissen von all dem nichts. Wir haben noch nie etwas von einem Palast oder einer Prinzessin gehört. Uns hat man nichts gesagt.«
»Davon steht nichts in unserem Reiseplan«, fügte Marianne streng hinzu.
»Ja, ehrlich – wenn uns jemand was von einer Prinzessin erzählt hätte, würde ich mich garantiert daran erinnern«, sagte Delphine.
»Ihr werdet die Prinzessin morgen kennenlernen. Und ihr werdet staunen, wie schön und klug und gebildet sie ist.«
Delphine strich sich die Haare hinter die Ohren und zupfte ihren Rock zurecht. »Ich komme oft mit wichtigen Leuten zusammen«, verkündete sie. »Das ist nichts Besonderes für mich.«
»Also Delphine!« Marianne verdrehte die Augen und wollte ihr einen Tritt versetzen, aber die Pelzdecke war zu fest um ihre Knie gewickelt.
»Ihr müsst euch nicht vor der Begegnung mit der Prinzessin fürchten«, erwiderte Ivan ernst. »Ihr werdet sehen, wie großzügig und verständnisvoll sie ist.« Seufzend fügte er hinzu: »Ich verdanke Prinzessin Volkonskaja alles. Fünfzehn Jahre in der Armee – und dann ein einziger Fehler. Irgendein feiger Mistkerl verbreitet Lügen über mich und schon fliege ich aus der Armee. Ich kann nicht in mein Dorf zurück: Die Schande würde meine Mutter umbringen. Also lebe ich auf der Straße. Und dann, in einer Sommernacht, kommt die Prinzessin vorbei. Sie sieht einen Mann vor sich, erniedrigt, verleumdet, die Ehre beim Teufel. Aber die Prinzessin sieht hinter die Fassade.« Ivan lächelte selig bei der Erinnerung. »Sie hat Vertrauen zu mir. Gibt mir ein neues Leben im Volkonski-Winterpalast.«
Marianne angelte ihren Reiseführer aus ihrer verbeulten Ledertasche hervor. »Wo ist das?«, fragte sie, während sie das Inhaltsverzeichnis aufschlug und die Einträge überflog.
»Hinter dem Weißsee«, erklärte Ivan. »Aber ihr werdet den Volkonski-Palast in keinem Reiseführer finden. Er ist wie ein Diamant im Schnee, ein Palast der Träume, so einsam und abgelegen, dass er in Vergessenheit geraten ist und das edle Geschlecht der Volkonskis aus den Geschichtsbüchern ausradiert wurde.«
Ivan ging durch den Wagen und drückte auf eine Wandtäfelung. Lautlos glitt eine Tür beiseite und dahinter kam ein Kabinett zum Vorschein, das als komplettes Reise-Badezimmer ausgestattet war. Ivan öffnete eine tiefe Schublade in einem Schrank und zauberte noch mehr Pelze und Kissen hervor, außerdem Zahnbürsten und Nachthemden. Dann legte er einen Stapel neben jedes der drei Mädchen.
»Am besten schlaft ihr jetzt ein bisschen«, riet er ihnen. »Wir haben eine lange Reise vor uns und ich möchte nicht, dass ihr völlig übermüdet seid, wenn
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