Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
grinste sie und setzte ihre Brille wieder auf. »Ich kann machen, was ich will, ich seh immer gleich aus.«
Im Flur draußen blieb es still.
»Wissen wir überhaupt, wo wir hinwollen?«, fragte Marianne schließlich.
Delphine überlegte kurz. »Wahrscheinlich haben sie im Weißen Speisesaal für uns gedeckt«, sagte sie zuversichtlich. »So wie gestern.«
Die Prinzessin saß am anderen Tischende in einem eleganten blauen Rock und einer hochgeschlossenen Voile-Bluse. Über ihren Stuhl war ein gewaltiger Pelz drapiert. Ihre Lippen waren blutrot geschminkt und leuchteten wie eine üppige Pfingstrose in ihrem blassen Gesicht. Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und starrte ins Leere.
Dann gab sie sich einen Ruck, zog die Pelzstola um ihre Schultern, als sei ihr kalt, und führte ein lippenstiftverschmiertes Tässchen an ihren Mund. Schließlich stand sie auf und kam auf die Mädchen zu. Von nahem sah man, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte, und Sophie entdeckte winzige Puderstäubchen auf ihrer Nase. Ihre Augenlider waren mit zwei dünnen schwarzen Strichen geschminkt, die schräg nach oben zeigten. Aber die dicken Kajalbalken zerstörten irgendwie die feinen Proportionen ihres Gesichts und sie sah nicht so hinreißend schön aus wie sonst.
»Ich konnte nicht schlafen«, verkündete sie und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »So viel Papierkram zu erledigen!« Und tatsächlich sah sie übernächtigt und zerbrechlich aus, gar nicht wie bisher. »Dabei bekommen wir heute Besuch! Einen sehr wichtigen Gast! Er heißt General Grekov.«
»Prinzessin!« Ivan tauchte in der Tür auf, ein Tablett mit Brötchen in den Händen.
»Ivan?« Sophie sah, dass die Prinzessin hastig ihr Gesicht zurechtrückte, als hätte sie etwas zu verbergen.
Ivan trug das Tablett zur Anrichte. Sein Haar war ungekämmt und seine Jacke nicht richtig zugeknöpft. Sorgfältig wich er dem Blick der Prinzessin aus, schob Platten und Teller hin und her und stellte Teegläser auf den Tisch.
Die Prinzessin zuckte zusammen, als er eine Handvoll Besteck fallen ließ, und wies ihn scharf auf Russisch zurecht. Ivan bückte sich, um das heruntergefallene Besteck wieder aufzuheben, und Sophie sah, dass seine Hände zitterten.
Die Prinzessin setzte sich wieder. Sie verlangte noch mehr Kaffee und starrte die Wand an, als stellte sie sich die Bilder vor, die längst nicht mehr dort hingen.
Die Mädchen wechselten betroffene Blicke. Niemand sagte etwas. Die Prinzessin schaute ungeduldig auf ihre Uhr.
»Ich ertrage es nicht«, stieß sie hervor. »Ich kann nicht einfach dasitzen und …« Sie hielt inne und lächelte die Mädchen an. »Kommt mit mir.«
Sophie und die anderen folgten ihr.
»Was ist denn los?«, fragte Delphine, den Blick auf den Rücken der Prinzessin geheftet, die ihr Haar zu einer kunstvollen Flechtfrisur aufgesteckt hatte. Aber es kam keine Antwort.
Sie gingen eine breite Treppe hinauf, zu einer Flügeltür, die mit Leiern und Wolfsköpfen mit aufgerissenen Mäulern verziert war. Ob die Wölfe knurrten oder sangen, konnte Sophie nicht erkennen. Aber jetzt wusste sie wenigstens, wo sie waren: Sie standen vor der Galerie! Die Prinzessin griff in ihre Rocktasche und zog einen Schlüssel hervor.
Sophie lief ein Schauer über den Rücken. Gleich würde sie den Ort sehen, an dem Prinz Vladimir sich seinen Mördern gestellt hatte.
Die Prinzessin steckte den Schlüssel ins Schloss, dann drehte sie sich zu Sophie um. »Vielleicht siehst du ja etwas, das mir entgangen ist«, sagte sie und legte einen Finger auf Sophies Hand. »Komm mit und lerne meine Familie kennen!«
Moderluft und gähnende Leere schlugen ihnen entgegen, als die Prinzessin die Tür öffnete. Sophie hörte, wie ein Streichholz angezündet wurde, dann flackerten zittrige Flammen auf langen Kerzen auf. Die Prinzessin gab jeder von ihnen eine Kerze, hob einen schweren, vielarmigen Leuchter hoch und ging in die Mitte des riesigen Raumes. Überall schimmerten Gesichter aus der Dunkelheit hervor.
»Darf ich vorstellen – die Volkonskis!«, verkündete die Prinzessin und streckte ihren weißen Arm aus, als wollte sie den Mädchen ihre Vorfahren präsentieren.
Hunderte von Porträts hingen an den Wänden: schöne Frauen mit weißen Schultern und Schoßhündchen im Arm; kleine Jungen mit langem Haar und seidenen Mänteln, die wie Miniatur-Erwachsene neben großen Jagdhunden oder Statuen posierten; Männer in stolzer Haltung mit hochmütigen Gesichtern, die
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