Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
war, als treibe sie auf dem offenen Meer wie ein Boot ohne Anker und ohne Hoffnung, jemals wieder ans Ufer zurückzufinden – ein Spielball der Gezeiten, der Strömungen und der Winde.
Die Uhr tickte weiter, und der Mond glitt hinter den Fensterladen, als könne er sein eigenes Gewicht nicht mehr stemmen.
Sophie wartete gebannt. Gleich würde ein einzelnes, einsames Heulen an ihr Ohr dringen, das wusste sie mit hundertprozentiger Sicherheit. Ein Heulen, das sie jetzt wiedererkennen würde, an dem unverwechselbaren Glissando auf dem höchsten Ton. Sie lauschte angestrengt und legte ihre Hand auf den Anhänger an ihrem Hals. Er war ganz warm von ihrer Haut. Und sie wusste, dass sie nicht einschlafen würde, ehe sie es gehört hatte: das herzzerreißende Heulen dieses Wolfs.
An diesem Morgen kam niemand, um sie zu holen. Und es lagen auch keine Kleider bereit. Delphine packte ihren restlichen Koffer aus, stapelte T-Shirts und Vintage-Seidenblusen auf einem Stuhl.
»Oh, Mist – ich hab meine Brogues vergessen«, stieß sie mürrisch hervor.
Sophie schaute an ihren eigenen, schon ziemlich verkrumpelten Kleidern hinunter, dann zog sie den silbernen Volkonski-Mantel über ihre Jeans. Delphine lächelte anerkennend.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Marianne. »Sollen wir runtergehen und Ivan suchen?«
Sophie rubbelte ein Guckloch in dem vereisten Fenster frei und spähte in den Park hinunter. Dann ließ sie ihren Blick ins Leere gleiten und spürte, wie das Frühlicht in ihren Geist einsickerte. Bilder von der letzten Nacht stiegen in ihrem Kopf auf. Dimitris verletzte Hand … hoffentlich ging es ihm gut! Und Mascha, seine Schwester. Wie die beiden so vertraut nebeneinandergesessen hatten, Schulter an Schulter. Und die Geschichte von den verschollenen Volkonskis, die sie ihr erzählt hatten.
Aber noch etwas war Sophie an den beiden Geschwistern aufgefallen: Sobald von der Prinzessin die Rede war, verstummten sie und strahlten eine kaum verhohlene Feindseligkeit aus. Dabei mussten sie doch froh sein, dass nach so langer Zeit endlich wieder eine Volkonskaja im Palast lebte. Aber sie hassten die Prinzessin, das war offensichtlich. Und warum hatten sie gesagt, dass die Prinzessin keinen Respekt vor den Wölfen hatte? Sophie dachte an die Szene beim Schlittschuhlaufen, als sie »Wolf!« geschrien hatte und die Prinzessin so böse geworden war. »Hier gibt es keine Wölfe«, hatte sie gefaucht. »Gar nichts hast du gesehen.« Warum stritt sie die Existenz der Wölfe ab?
»Ich bin am Verhungern«, stöhnte Marianne und schaute sich nach dem Abendessenstablett um, das aber spurlos verschwunden war. »Wo sind die eigentlich alle? Komisch, dass man nie jemand sieht.«
Sophie wollte schon vom Unterpalast erzählen, aber plötzlich hatte sie Angst, dass die anderen sie auslachen würden. Später. Das hatte Zeit.
»Na ja, das meiste macht wohl Ivan hier.« Delphine zuckte die Schultern und studierte ihr Spiegelbild. Sie hatte ihr Haar rechts und links zu zwei dicken goldblonden Schlingen zusammengezwirbelt. »Lasst uns einfach mal runtergehen und nachschauen. Wir können doch nicht den ganzen Tag hier oben rumsitzen.« Mit einem Blick auf Marianne fügte sie hinzu: »Also ehrlich, Marianne, willst du etwa so rausgehen?«
»Ach hör bloß auf!«, fauchte Marianne. Ihr Haar war ungekämmt und ihre Füße steckten in ausgelatschten College-Schuhen. Das T-Shirt hing unter ihrem Pulli heraus, ihr Gesicht war knallrot vor Wut und sie funkelte Delphine böse an.
Delphine wich zurück. »Ich meine ja nur …«, stotterte sie kleinlaut.
»Es ist mir egal, wie ich aussehe«, zischte Marianne und zerrte ihren Pullover herunter. »Geht das nicht endlich mal in deinen Kopf rein? Und niemand stört es, nur du musst immer …«
»Lass doch, Marianne«, sagte Sophie und fasste sie beschwichtigend am Arm.
Marianne setzte sich auf ihr Bett, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Sie war genauso bestürzt über ihren Wutausbruch wie die anderen. »Tut mir leid«, flüsterte sie. »Du siehst wunderschön aus, Delphine. Es ist nur … Ich hab einfach andere Interessen als du.«
»Ich weiß«, sagte Delphine leise. »Aber das ist eben so bei mir – wenn ich nervös bin, will ich wenigstens was Anständiges anhaben …«
»Also gut, ich bürste mir jetzt die Haare«, sagte Marianne versöhnlich, nahm ihre Bürste in die Hand und fuhr zweimal kurz durch ihr Haar, das sich sofort aufbauschte wie ein Ballon. »Siehst du«,
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