Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
gesagt, dass sie vor dem Schlafengehen ihre Zähne putzen sollte. Sophie wusste, dass sie »brav« sein und gehorchen musste, weil sie ja sonst nirgends hinkonnte, wenn Rosemary sich nicht um sie kümmerte.
»Woltschija printsessa hat geliebt Wald. Wollte immer nur sein draußen. Sie glücklich war hier. Und als Sohn von Vormund, junger Prinz Vladimir, zurückgekommen von Armee ist«, erzählte Mascha lächelnd, »sie geheiratet haben.«
Eine Glocke läutete über der Tür. Mascha sprang erschrocken auf. »Du jetzt gehen. Wir arbeiten müssen. Frau oben will Kaffee. Wir nicht zu spät kommen dürfen.« Sanft zupfte sie an Sophies Ellbogen. »Vielleicht falsch, dass ich herbringe dich …«
Dann öffnete sie die Tür. Sophie trennte sich nur schweren Herzens von Dimitri und Mascha, ihrer Mutter und babuschka . Es war so schön hier, so gemütlich. Ein Luftzug peitschte in das kleine Zimmer herein und ließ die Kerzenflamme aufflackern.
»Was ist mit deiner Hand? Geht’s wieder?«, fragte Sophie Dimitri.
Er winkte mit der bandagierten Hand und zuckte die Schultern, als sei die Verletzung nicht der Rede wert. Die alte Frau kehrte ihnen den Rücken zu und rollte sich wieder auf dem Ofen zusammen. Aber als Maschas Mutter sich von Sophie verabschiedete und ihr mit ihren abgearbeiteten Händen sanft über die Wange strich, sagte die alte Frau noch etwas. Mascha und ihre Mutter wechselten einen Blick. Maschas Mutter lächelte, bremste sich aber und schlug das Kreuzzeichen über Sophie.
Mascha übersetzte: »Meine Mutter sagt, sie froh ist, dass du bist hier.«
»Aber ich fahre bald wieder nach Hause«, murmelte Sophie.
Die Worte »nach Hause« klangen falsch in ihren Ohren, noch ehe sie zu Ende geredet hatte. Welches Zuhause? Sie hatte kein Zuhause, wenn damit Menschen gemeint waren, die sie liebten, so wie Dimitri, Mascha, ihre Mutter und ihre Babuschka einander liebten. In einem Zuhause musste man sich doch geborgen fühlen und nicht als lästiger Eindringling! Aber Geborgenheit kannte sie nicht, außer wenn sie von ihrem Vater träumte und er seine Hand mit ihrer verschränkte. Und vielleicht noch der kurze, kostbare Moment, als sie mit Dimitri im Kronleuchter gesessen und er ihr vorgesungen hatte. Es war nur eine leere Floskel, wenn sie sagte, dass sie nach Hause fuhr. Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen, ohne dass sie wusste, warum. Vielleicht weil sie sich in dem Raum hier, unter diesen Menschen so wohl fühlte, dass sie am liebsten dageblieben wäre.
Aber Mascha war bereits losgerannt. »Vielleicht ja, vielleicht nein …« Schlitternd kam sie zum Stehen und lauschte auf ein Türenklappen irgendwo im Palast. Ihre Augen brannten, spiegelten das Fackellicht wieder. »Wir sind, wer wir sind«, verkündete sie. »Der Mond mag noch so scheinen, er gibt kein Sonnenlicht.«
Die Täfelung glitt auf und Sophie sah die Lichtbahnen, die der Mond auf den Schlafzimmerboden warf.
Mascha drückte ihre Hand. »Wir nicht wissen, warum du bist hier, aber du vorsichtig sein musst. Frau oben … sie wird verlangen viele Dinge.« Sie spähte über die Schulter, als könne die Prinzessin jeden Moment hinter ihr auftauchen. »Du nichts sagen. Nix erzählen. Es ist nicht …« Sie hielt inne und runzelte die Stirn. »Ist nicht sicher, wenn du redest.«
Ehe Sophie antworten konnte, schubste Mascha sie durch die Öffnung und die Täfelung glitt wieder zu.
Delphine murmelte etwas im Schlaf. Unruhig wälzte sie sich herum und ihre Felldecke fiel auf den Boden. Sophie huschte im Mondlicht hinüber, hob die Decke auf und legte sie behutsam über ihre Freundin.
Dann setzte sie sich auf ihre Bettkante. Der Wind war abgeflaut und der Mond stand über dem zerbrochenen Fensterladen. Ihr Atem hing wie eine Wolke vor ihrem Mund. Schlotternd vor Kälte schlüpfte Sophie unter das schwere Fell, das leise raschelte und knisterte, wenn sie sich bewegte. Sonst war es totenstill im Zimmer, nur das Ticken von Delphines kleinem Reisewecker war zu hören. Sophie schaute auf den Leuchtzeiger, der die Zwölf und die Drei aus dem Dunkel hob.
Nachdenklich zog sie das Fell bis unter ihr Kinn und setzte sich im Bett auf, um den Mond zu betrachten. Vielleicht half es, wenn sie sich auf das klare, helle Mondlicht konzentrierte, vielleicht verstand sie dann besser, was gerade passiert war, warum sie hier in diesem vergessenen Palast festsaß, mitten in einem riesigen, leeren Land voller Menschen, die sich äußerst merkwürdig verhielten. Es
Weitere Kostenlose Bücher