Wo Schneeflocken glitzern (German Edition)
nicht einfach so abhauen, ohne Tschüss zu sagen.«
Sophie huschte zur Tür. »Mascha«, sagte sie betont fröhlich. »Kannst du Dimitri zu mir schicken? Er muss mir bei was helfen, bevor ich deiner Mutter und deiner babuschka Lebwohl sage.«
Sophie stand vor den zerstörten Bildern. Das eine mit Kugellöchern übersät, das andere, das Frauenporträt, mit zerfetztem Gesicht. Langsam streckte sie die Hand aus und berührte die aufgeschlitzte Leinwand an der Stelle, an der der Hals der jungen Frau gewesen war. Das hier war die Wolfsprinzessin. Sofja Volkonskaja. Sie hatte hier gelebt. Sophie hatte die Diamanten, die jetzt nur noch Pinselstriche waren, in ihrer Hand gehalten. Ob die Zollbehörde ihr wohl gestatten würde, die beschädigten Porträts mit nach London zu nehmen? Bei Rosemary würde sie die Bilder einfach unter dem Bett verstecken.
Seufzend dachte sie an den Kristallanhänger, der jetzt am Grund der Eisstraße lag. Ob er wirklich aus dem Palast hier stammte? Wenn ja, wäre Rosemary vielleicht nicht so wild darauf, ihre Sachen zu entsorgen, wenn sie mit den Gemälden nach London zurückkam.
»Wir haben dich gefunden«, flüsterte Dimitri, der neben ihr stand. »Wir haben die Augen aufgehalten und gewartet und dann bist du gekommen.«
Sophie starrte angestrengt vor sich hin. Sie konnte ihm nicht ins Gesicht schauen, weil sie sonst die Enttäuschung darin gesehen hätte. Aber aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie seine Narbe zuckte.
»Warum du gehst fort?«
»Ich komme wieder«, sagte Sophie und berührte den Rahmen des Porträts. »Ich verspreche, dass ich zurückkomme, sobald ich kann.« Es war nicht nur ein Versprechen an Dimitri, sondern auch an die Wolfsprinzessin. Seufzend fügte sie hinzu: »Warum bin ich noch so jung? Und warum müssen mich alle wie ein Kind behandeln?«
Dann holte sie das Foto hervor, das Dr. Starowa von ihr auf dem Pausenhof gemacht hatte. Sie wollte es hinter den Bilderrahmen schieben, aber es blieb stecken. Da war etwas im Weg. Sophie tastete mit dem Finger herum und zog ein zusammengefaltetes Blatt hervor. Sie faltete es auseinander, aber es waren nur unverständliche Zeichen auf altem Notizpapier. Sie konnte nichts davon entziffern.
»Dimitri«, sagte sie und hielt ihm das Blatt hin, »weißt du, was da draufsteht?«
Dimitri nahm das Papier in die Hand und murmelte stirnrunzelnd die russischen Worte vor sich hin. »Das ist ein Brief«, sagte er und drehte ihn um. »Aber ich weiß nicht, an wen er …«
»Steht kein Name drauf?«
»Nein … da steht nur … Für … meinen Liebsten .«
»Und was steht sonst noch drauf?«
Dimitri überflog den Brief. »Sie will nicht fort …«, übersetzte er zögernd. »Sie ist so traurig … sie schickt Worte auf sehr weiten Weg … über das Meer … über die Jahre hinweg … durch Tränen …«
»Das ist von Sofja.«
Dimitri nickte.
Sophie nahm ihm sanft den Brief aus der Hand. »Ach, es ist hoffnungslos.«
Dimitris Augen verfinsterten sich und er schaute sie verwirrt an.
»Verstehst du denn nicht, Dimitri? Es ist der einzige Brief, den ich habe, das Einzige, was mir von meiner Familie geblieben ist … Ja, okay, die Worte sind nicht direkt an mich gerichtet, aber an das Ich, von dem sie gehofft haben, dass es eines Tages ins Leben treten würde …«
Dimitri nickte langsam und Sophie fuhr fort: »Und das Traurige ist … ich verstehe kein Wort davon! Kapierst du jetzt? Mein Vater hat mir das Lied vorgesungen, bevor er gestorben ist. Vielleicht hat er mir die Worte vorgesungen und ich habe sie vergessen. Er hat nicht lange genug gelebt, um mir Russisch beizubringen. Rosemary verachtet ihn. Sie hat mir nie was erzählt … falls sie überhaupt selber was weiß …«
»Das Volkonski-Lied. Ein Wiegenlied. Ein Lied darüber, wie die Wolfsprinzessin ihre Diamanten versteckt hat …«, flüsterte Dimitri.
»Vielleicht ist mein Vater deshalb ein Dichter geworden«, sagte Sophie. »Auch wenn es ihm selbst nicht bewusst war.«
Wieder starrte sie auf den Brief, fuhr mit dem Finger die fremdartigen Zeichen nach, die ihr noch immer nichts sagten. Nur am unteren Rand erkannte sie die Buchstaben der russischen Version ihres Namens. СОФИЯ .
»Ich muss unbedingt Russisch lernen«, sagte sie und schaute in Dimitris ernstes, offenes Gesicht. »Würdest du mir dabei helfen?«
Lächelnd schaute er sie an und nickte. Aber dann wandte er sich abrupt ab. »Und wie soll ich das machen? Du doch gehst fort!«
Sophie
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