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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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würden …
    »Apropos Durst«, unterbrach ihn Loredana, »Sie hätten nicht vielleicht etwas zu trinken?«
    Er lachte über ihre unverblümte Frage, entschuldigte sich, seine Gastgeberpflichten so vernachlässigt zu haben, und winkte einem der zwanzig Mulatten in Latzhosen zu, die er für die Pflege seiner Sammlung angestellt hatte.
    »Wir bleiben bei Champagner, oder? Schließlich wird heute gefeiert!«
    »Und was feiern Sie?«, fragte Loredana aus schlichter Neugier.
    Moreira setzte eine neckisch-verführerische Miene auf:
    »Na, das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, junge Frau! Das wäre schon Grund genug, meinen Keller ganz und gar auszutrinken!«
    Loredana quittierte das Kompliment mit spöttisch verzogenem Mund. Auf einmal spürte sie, dass ihr der Alkohol zu Kopf gestiegen war. Und es ärgerte sie plötzlich ganz enorm, dass Eléazard sie dem Oberst überlassen hatte. Zur Strafe ließ sie sich widerstandslos von Moreira am Arm zum Heck des Wagens ziehen.
     
    Zwei Kellner, die der Mechaniker aus der
Fazenda
geholt hatte, teilten der Runde Champagnerschalen aus.
    »Warum werden Sie eigentlich mit ›Oberst‹ angesprochen?«, erkundigte sich Loredana, nachdem sie das Glas mit drei Schlucken geleert hatte. »Sind Sie Soldat?«
    »Nein, eigentlich nicht«, gab der Gouverneur nonchalant zu und winkte dem Kellner, ihr sofort nachzuschenken. »Es ist ein angemaßter Titel, wenn man so will …« Er strich sich mechanisch den Schnurrbart. »Politische Führer und die
Fazendeiros
, die Großgrundbesitzer, werden immer noch so angesprochen. Eine Tradition aus der Kaiserzeit: Um gegen Aufständische vorzugehen, hatte Dom Pedro I. Regionalmilizen gegründet und deren Führung örtlichen Würdenträgern mit dem Grad eines Obersten anvertraut. Die Milizen gibt es nicht mehr, die Bezeichnung ist geblieben. Aber was sollen die Förmlichkeiten! Nennen Sie mich einfach José, das würde mich freuen.«
    Sie richtete sich hoheitsvoll auf, auch wenn ihre Artikulation allmählich etwas undeutlich wurde.
    »Sie sind ja ein echter Draufgänger, Oberst!«
    Abgesehen von den Japanern, die sich miteinander unterhielten und etwas steif den Panhard umstanden, umringten die Gäste den Gouverneur und gaben seinem Geplauder arglos Stoff durch Fragen oder Bemerkungen, die in ihrer Harmlosigkeit doch genügend Dünkel verrieten.
    Unbewegten Gesichts, die Hände in die Hosentaschen gestemmt, schienen Eléazard und Doktor Euclides in Gedanken vertieft.
    »Ich bin ganz Ihrer Meinung, William«, tönte gerade der Gouverneur, allerdings an Loredana gewandt, wie um ihre Zustimmung zu erheischen, »die Armut ist tatsächlich ein schweres Problem. Wenn man sich vorstellt, dass in einem Land wie unserem immer noch Pest und Cholera grassieren, ganz zu schweigen von den Leprakranken, die überall betteln … Das ist nicht mehr nur eine Tragödie, das ist schon Verschwendung! Natürlich wird sofort die Unfähigkeit der Politiker beklagt, die Korruption oder sogar die soziale Schere, die zwischen den Fazendeiros und den Landarbeitern klafft. Aber das ist zu kurz gegriffen. Unsere Auslandsverschuldung ist die höchste der Welt, wir müssen immer neue Kredite aufnehmen, allein um die Zinsen zu bedienen! Solange es kein definitives Schuldenmoratorium gibt, kommen wir aus dieser Zwickmühle nicht heraus, so viel ist klar … Dabei ist Brasilien immerhin der weltweit größte Produzent an Zinn, der zweitgrößte an Stahl, der drittgrößte an Mangan, von Holz und Rüstungsgütern ganz zu schweigen … Was denken Sie denn, wem wir das verdanken? Der Arbeiterpartei? Den Kommunisten etwa? All diesen Möchtegern-Revoluzzern, die nichts tun als herumzukritteln, dabei verstehen sie nichts, aber auch gar nichts von der wirtschaftlichen Realität des Landes? Oder etwa den Bauern, die sofort aufhören zu arbeiten, sobald sie genug Mais geerntet haben, um nachts in Ruhe zu schlafen? Wir müssen da ganz klar hinschauen: Die Brasilianer sind immer noch Kinder. Wenn wir nicht da wären und für den Fortschritt sorgen würden, wir Unternehmer, die wir von einem besseren Brasilien träumen und all unseren Ehrgeiz daransetzen, wer sonst würde es tun, frage ich Sie? Die Armut ist nur eines von mehreren Symptomen unserer Unreife … Das mag traurig sein, beklagenswert, dramatisch, nennen Sie es, wie Sie wollen, aber man muss das Volk erziehen, ob man nun will oder nicht, damit es sich endlich ans Werk macht, damit es erwachsen wird und Verantwortung

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