Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
Vom Netzwerk:
Sorge, ich schweige wie ein Grab! Wie eine ägyptische Grabkammer! Ich hoffe, du hast wenigstens nicht endgültig das Ufer gewechselt …«
    »Ach, hör doch auf!«, antwortete Moéma und räkelte sich ohne jede Scheu trotz ihrer Nacktheit. »Du kannst erzählen, was du willst und wem du willst, ich habe das Alter der Versteckspielchen hinter mir.« Sie teilte ihr zerzaustes Haar, wie man einen Vorhang beiseiteschiebt: »Ist es schon spät?«
    »Elf Uhr früh, Zeit zum Aufstehen für die
maconheiras
! Du siehst vielleicht aus, mein Armes … Wir gehen mit der ganzen Bande zum Strand runter, kommt ihr nach?«
    »Ja, gleich …«, antwortete Aynoré mit geschlossenen Augen.
    Das verräterische Beben, das Moémas Haut beim Klang dieser Stimme überlief, ließ Marlene die Augenbrauen hochziehen, mit einem komischen Gesichtsausdruck:
    »Na, Schätzchen«, murmelte er im Gehen, »das hast du noch nicht überstanden!
Você vai espumar como siri na lata …
«
    Während der Minuten, die Moéma noch in der Hängematte liegen blieb und mit den Fingern über die glatte Haut ihres Liebhabers fuhr, entfalteten Marlenes Andeutungen ihre Wirkung. Moéma versuchte zwar, sich einzureden, dass die Kommentare des Transvestiten rein auf Eifersucht beruhten, doch war ihr das Glücksgefühl der vergangenen Nacht auf einmal nicht mehr greifbar. Zum Gefühl, Thaïs betrogen zu haben – sie wusste jetzt schon, die Nacht mit dem Indio war kein flüchtiges Abenteuer, sondern ein Einlassen ohne Rückkehr, ein willentlicher und endgültiger Abschied, den sie ihrer Freundin würde erklären müssen –, gesellte sich der Zweifel, den Marlenes ätzende Bemerkungen gesät hatten. Dieses »dich auch« hatte präzise getroffen. Natürlich, Aynoré war so verführerisch, er musste die Mädchen anziehen wie die Fliegen … Na und? Was sie aufeinander zugetrieben hatte, war einzigartig, niemand konnte das verkennen, allenfalls aus Missgunst. Aynoré hatte ihr versprochen, sie in das einzuführen, was die moderne Gesellschaft in uns zu tilgen trachtet, und sie vertraute dem, was er sagte. Ein Wolf lässt sich nicht zähmen: Also würde sie das auch nicht versuchen, sondern selbst zur Wölfin werden, würdig seiner Art, in der Welt zu leben, der Wildheit, mit der er es tat.
    Manchmal will man einen Traum umso mehr festhalten, als er zu verblassen beginnt; an diesen hier klammerte sich Moéma, sie wollte ihn mit einem Gründungsakt bekräftigen, einem Opfer, das seine Realität bewies. Während sie darüber nachdachte, trat ihr ein Bild vor Augen, das ihr ein Siegerlächeln auf die Lippen lockte. Sie drehte sich auf die Seite, plötzlich von all ihren Ängsten befreit, und stand behutsam aus der Hängematte auf.
    Als sie ein paar Minuten später Aynoré den Kamm und die Schere hinhielt, die sie bei Dona Zefa ausgeliehen hatte, erfüllte er ihren Wunsch fraglos. Mit jener etwas feierlichen Distanz, die Moéma einfach umhaute, begann er, ihr langes Haar in der Art der Frauen seines Stamms zu schneiden: Erst ein glatter, horizontaler Schnitt dicht über den Augenbrauen, dann führte er diese Linie auf beiden Seiten des Kopfes fort, ließ die Haare aber auf der Breite des Nackens so lang, wie sie waren. Er rasierte ihr die Schläfen aus, bis nichts mehr vom früheren Haaransatz zu ahnen war, und schließlich klemmte er ihr an jedes Ohr ein kleines blaurotes Federbüschel, wie er sie auf der Straße verkaufte.
    »Dein Glück, dass ich kein Yanomami bin«, sagte er, als er ihr eine Spiegelscherbe hinhielt, »dann hätte ich dir die Haare von der Stirn bis oben auf dem Schädel wegrasiert …«
    Moéma versuchte erst gar nicht, sich in dem merkwürdigen Bild wiederzuerkennen, das er in der Hand hielt: Dank des Opfers ihrer Haare trat ihr Traum aus der Zwischenwelt heraus, sie fühlte sich vervollständigt, innerlich gewandelt, wie nach einem Initiationsritual. Von dieser Erkenntnis durchdrungen, imitierte sie Aynorés feierliche Art. Schweigend, mit sparsamen Gesten – wie eine Priesterin in alter Zeit, dachte sie – rollte sie geheimnisvoll lächelnd einen Joint. Und was sie an diesem Morgen rauchte, das war keine
Maconha
mehr, sondern das heilige Caapi, der Mittler zwischen der Welt der Menschen und derjenigen der Götter …
    Als sie im blendend hellen Mittagslicht zum Strand hinuntergingen, fühlte Moéma sich schön und wie eine Kriegerin, eine Männertöterin und Fleischfresserin; als Amazone. Sie machten an Seu Jujus Hütte halt, um Krabben

Weitere Kostenlose Bücher