Wo Tiger zu Hause sind
Indiofrauen? Die tausenderlei ständigen Ausgrenzungen wegen ihrer »Unreinheit«? Die Praxis der Couvade, diese Tragikomödie, in der die Indios die männliche Heuchelei so weit trieben, dass sie Wehenschmerzen simulierten und in ihrer Hängematte wimmernd die Glückwünsche zum Neugeborenen entgegennahmen, während ihre Frau, noch von der Entbindung ermattet, sich mühte, um für die Gäste Kuchen zuzubereiten? All diese Seltsamkeiten, wegen deren sich ihre Begeisterung für die Lebensart der Indios sonst in Grenzen hielt, hatten sich verflüchtigt, ein wenig, als hätte man all ihre Fähigkeit zum kritischen Denken ausgeknipst. Ihre Liebe – so bezeichnete sie erstmals innerlich die Euphorie, die allein schon der Gedanke an Aynoré ihr verursachte – würde alle Hürden überwinden; und nötigenfalls würde man den Traditionen eben ein wenig zuwiderhandeln müssen …
Ein Motorengeräusch ließ sie zur Landzunge blicken: In rasender Fahrt kam ein goldgelber Buggy heran, hart an der Wasserlinie. Er wurde zusehends größer, hohe Wasserfontänen spritzten von seinen Rädern auf.
Mit vollem Rückenwind schoss die Jangada seit zwei Stunden auf die Küste zu, geschickt auf der starken Dünung des Ozeans reitend. Das Zerteilen einer riesigen, gegen Ende des Fischzugs noch gefangenen Meeresschildkröte hatte den Aufbruch verzögert, so dass die Sonne bereits als rote Scheibe dicht über der dunklen Küstenlinie lag. João gab seine Anweisungen für die Landung:
»Du kommst neben mich«, sagte er, ohne Roetgen anzusehen. »Und springst erst auf mein Kommando ab, nicht vorher: Eine falsche Bewegung, und wir kippen um …«
Roetgen war klar, wie sinnvoll diese Regeln waren. Die vier Männer standen zu beiden Seiten des auf Deck angebrachten Bocks und hielten sich daran fest; so mussten sie dafür sorgen, dass das Boot bis zum Ufer sein Gleichgewicht hielt. Einhundert Meter vom Land entfernt, dort, wo die Dünung sich zu langen, durchscheinenden Brechern aufbaute, klammerte João sich an sein Steuerruder. Er spähte angespannt hin und her, um die Lage des Boots und die sich aufbauenden Wellen, die das Heck zu verschlingen drohten, zu überwachen; dann korrigierte er den Kurs mit kleinen, nervösen Bewegungen des Ruders. Falls er sich quer zur Dünung stellte oder zu viel Tempo verlöre, würden die Wellen sie über den Haufen werfen wie ein wehrloses Stück Treibholz … Jedes Mal, wenn ein Brecher sie einzuholen drohte, manövrierte João die Jangada so, dass sie vor der Welle hersurften und schnell genug wurden, um ihr abermals zu entkommen. Von der letzten Brandungswelle, die sie an Land trug, unkontrollierbar mitgerissen, setzte die Jangada auf einmal knirschend auf und wurde den Strand hinaufgeschoben. Auf Joãos Zuruf sprangen die drei anderen rasch von Bord, er selbst ebenfalls, und sie hielten das Boot gegen die ablaufende Welle fest, während andere Fischer zu Hilfe eilten, Rundhölzer unter den Bug schoben und mit ihnen gemeinsam das Boot ins Trockene brachten.
Der von einem Maultier gezogene zweirädrige Bootswagen kam ihnen entgegen. João plauderte mit Bolinha, dem Führer des Bootswagens, über die Fahrt, und Roetgen gönnte sich eine Minute zum Verschnaufen. Er war müde, spürte jene weiche Mattigkeit, wie sie typisch ist nach einem Stück Arbeit, das einen in jeder Hinsicht überfordert, das man aber glücklich bewältigt hat. In seinen Stolz als Seemann mischte sich die Befriedigung, von den Fischern als einer der Ihren akzeptiert worden zu sein, mit vollem Recht zur Mannschaft gehört zu haben. In diesem Moment erblickte er Moéma … Den ersten Ansturm der Empörung bewirkte ihre lächerlich bedeutungsschwere Frisur, den zweiten, dass der Indio sie in den Nacken küsste, während sie auf ihn zukamen. Diese dämliche Glückseligkeit wie bei einer Schwangeren, dazu der Umstand, dass von Thaïs nichts zu sehen war … Moéma hatte noch kein Wort gesagt, da war Roetgens Eigenliebe schon schwer gekränkt.
Ohne regelrecht beleidigend zu sein, aber mit der etwas herablassenden Distanz dessen, der wenig Zeit hat, mit Müßiggängern zu plaudern, antwortete er wortkarg auf die Erkundigungen der jungen Frau. Dann verabschiedete er sie und half João, den Fang auf den Karren zu laden. Als die Anteile zugemessen wurden, beauftragte er Bolinha, seinen Anteil dem Fischer zu bringen, den er vertreten hatte, und darauf zu achten, dass dessen Kredit beim Ausrüster ausgeglichen wurde.
João lächelte
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