Wo Tiger zu Hause sind
ihn trotz seiner Erschöpfung an und hieb ihm mit rauer Herzlichkeit auf die Schulter: Jetzt würden sie erst mal eine, zwei Cachaças trinken gehen, vielleicht auch drei, wenn sie nicht vorher umkippten … Die beiden Männer nickten Moéma kurz zu, nahmen ihre Sachen und gingen vor Müdigkeit schwankend ins rote Gegenlicht des Sonnenuntergangs.
Moéma blickte ihnen noch einen Moment hinterher, wie sie die Düne hochstapften. Sie musste die Tränen zurückhalten, so hässlich hatte sie sich unter Roetgens Blicken gefühlt.
Ich bin dem Trunk anheimgefallen,
… sang der auf einem Bierkasten sitzende
Violeiro
. Seine Stimme war rau, die Gitarre hatte einen Riss. Ein Gesicht wie ein haitianischer Zauberer … Sah ziemlich kaputt aus, der Typ.
Das Licht der Hoffnung, ach, es sinkt.
… José Costa Leite, der Echte, mit seinen tiefliegenden Augen und der vor lauter Dreck ganz starren Kappe …
Ich brauch keine Lehren von euch allen:
… ich genauso wenig, dachte Roetgen, João nicht, übrigens niemand. Stell das bitte mal klar, ja?
Es ist kein Laster, wenn man trinkt …
… nein, wirklich nicht. Was, João? Alles Mögliche, aber doch kein Laster … Eine Pflicht, ja, ein moralisches Gesetz! Ein kategorischer Imperativ!
Wenn man vor Armut nur noch murrt,
Wenn dir der Magen nur noch knurrt,
… die armen Leute, Herrgott nochmal! Sich das anzuhören, und Millionen holen sich auf die neueste Hollywood-Diät und Fettabsaugung einen runter …
Wenn dir der Tod und’s Leben stinkt:
Dann ist’s kein Laster, wenn man trinkt …
… die Stimme eines Troubadours, eine sardische Stimme, eine andalusische, eine Stimme, zersungen auf den Wegen des Blues …
Der Schnaps vertreibt die Traurigkeit,
Er ist’s, der dir Vergessen bringt,
Den Kopf leer macht, das Herz dir weit:
Es ist kein Laster, wenn man trinkt …
… die reinste Armenmesse, und so lehrreich noch dazu! Der haut die Verse raus, und ohne vorher Luft zu holen, immer gezielt auf den Refrain zu … »Fegefeuer!«, sagt João plötzlich mit glasigen Augen und aschfahler Haut. »Los,
Cantador
! Fegefeuer!«
Schnaps oder Krebs? Die Wahl versteh ich,
Enthaltsam lebt man auch nicht ewig.
… zwei unendlich schräge Akkorde wie vom Bordun einer Leier, Klirren wie von einem mit Hundehaut bespannten Shamisen …
Ach, Fegefeuer, das mir winkt:
Es ist kein Laster, wenn man trinkt …
… ein afrikanischer Gesang, der Gesang eines erleuchteten Barden. »Freiheit!«, sagt Roetgen in den Raum hinein, und er wiederholt es gleich noch einmal, denn ihm ist, als hätte er heiße Kartoffeln im Mund. Er bereut es sofort, denn das Wort erscheint ihm mit einem Mal genauso merkwürdig, genauso sinnleer wie Methoxy- 2 -acetoxypropan oder Retinol-Mononitrat … Zwei Akkorde, und die Improvisation geht weiter:
Unsere Freiheit müssen wir hassen,
Sie heißt, dass wir uns knechten lassen.
José Costa Leite blickt zur Wand, sein Gesang wird schrill, gerät zum Schrei, findet neue Wege …
Die Hunde der Reichen kriegen Zuckerbrot,
Während uns anderen die Peitsche droht.
Wer wagt es und nach Freiheit fragt,
Wenn die Polizei ihn jagt?
Glaubt diesem Sänger, was er singt:
Es ist kein Laster, wenn man trinkt …
… begeisterte Pfiffe in der Bar, Gemurmel, zustimmendes Ausspucken … »
Que bom!
… Wo nimmt er nur immer solche Knaller her?«, fragt der Barmann. »Eine Cachaça für den Dichter, und gut eingeschenkt!« Und dann auf einmal zwei Engel, zwei lichtumkränzte Erscheinungen vorm Dunkel des Eingangs … Man könnte schier anfangen, an Gott zu glauben! Prinz-Eisenherz-Frisuren, von Goldstaub schimmernde Kronen und Flügel, langes Satingewand, rosa beim einen, himmelblau beim anderen, so reißen zwei junge Engel ihre hübschen Augen auf, die Hände vor der Brust aneinandergelegt wie zum Gebet. Sie schauen herein, um einen Blick in die Hölle zu werfen, so wie zwei echte kleine Mädchen es aus Neugier auf dem Weg zur Kirche tun könnten. Roetgen hätte nicht gedacht, dass Engel so ernst dreinblicken, wie zwei Insektenforscher, die sich den plötzlichen Aufruhr in einem Ameisenhaufen nicht erklären können. Er hat eine einladende Bewegung gemacht, und schon sind sie weg, als hätte ein benommen machender Wind seinen Frieden in die Kneipe geblasen. Costa Leite spielt weiter auf seiner Gitarre:
Die Bosse wissen nicht, wohin
Mit ihrem Geld, wo ist der Sinn?
Die Prolos schinden sich kaputt,
Sie scheißen Würmer, spucken Blut.
Für einer
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