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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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hat mehr als genug«, antwortete Roetgen. »Und wenn nicht, dann gehe ich welchen holen.«
    »Du wirst sehen, es kommt in Wellen«, erklärte Moéma Xavier. »Man denkt, das war’s, aber dann geht es noch stärker wieder los.«
    »Wie lange hält es eigentlich an?«, fragte Roetgen.
    »Vierundzwanzig Stunden kann es schon dauern … Warum willst du das wissen? Du machst dir doch nicht im Ernst Sorgen?«
    »Ein bisschen schon. Vor allem wegen Xavier.«
    »Immer langsam«, meinte Xavier beruhigend. »Wenn ich morgens nicht loskomme, dann eben am Abend oder übermorgen. Mit dem Meer gehe ich keine Risiken ein, das ist mir zu gefährlich.«
    Roetgen reagierte nicht. Wenn man sich ansah, auf was für einem Seelenverkäufer er über den Ozean gekommen war, durfte man an seiner angeblichen Vorsicht zweifeln.
    »Weißt du, dass er zwei Tage mit einer Jangada draußen war?«, fragte Moéma Xavier.
    An den Augen sah Roetgen ihr an, dass sie es sofort wieder bereute, diese Tage erwähnt zu haben. Auf Xaviers Frage, ob das nicht sehr schwierig gewesen sei, antwortete er kühl:
    »Nicht zu sehr, nein. Wieder an Land zu kommen war das Schwierigste.«
    Diese Antwort war eindeutig auf Moéma gemünzt, also fragte Xavier nicht weiter nach. Wenn die beiden etwas miteinander zu regeln hatten, war das nicht seine Sache.
    Thaïs blickte Roetgen mit aufgerissenen Augen an, um ihm zu bedeuten, nicht weiter darauf herumzureiten.
    »Entschuldige bitte«, sagte er gleich danach und griff über die Lehne des Liegestuhls nach Moémas Hand. »Es ist mir so rausgerutscht. Ich nehm dir’s nicht mehr übel, versprochen …«
    Als Antwort begnügte sie sich mit einem leichten Händedruck. Ein Frachtschiff fern am Horizont schien sie ganz und gar zu faszinieren.
     
    Die ersten Stunden waren friedlich, aber zwiespältig; zerdehnt, dumpf wie Stunden an einem Krankenhausbett. Thaïs und Roetgen tranken kleine Schlucke eiskalten Wein und flüsterten miteinander, immer ein Auge auf ihre im LSD -Rausch gefangenen Freunde. Um sie herum gab es ein Fest aus Licht & Wärme, das sie an Ort und Stelle hielt.
    Das Gespräch selbst tröpfelte langsam einher. Thaïs war von Parapsychologie fasziniert und überhaupt von allem, was intuitives Verstehen anging, und belegte durch allerlei Anekdoten ihren naiven Glauben ans Übernatürliche; Geschichten aus dem wirklichen Leben vor allem, die sie mit singender Stimme und in einem vertraulichen, überzeugten Ton vorbrachte, der fesselnder war als das Erzählte selbst.
    Roetgen gefiel ihre Begeisterung, er war froh über die Offenheit, mit der sie erzählte. Das war neu zwischen ihnen. Ganz anders als Moéma, die in vergleichbaren Situationen stur wurde und nicht die kleinste Nachfrage duldete, legte Thaïs eine geistige Wendigkeit an den Tag, die er bewunderte. Nicht, dass sie sich durch Roetgens Rhetorik hätte beeinflussen lassen, aber sie hörte zu, wog ab und versuchte, ihren Standpunkt zu verteidigen, ohne sich jemals a priori auf die Existenz des
Übernatürlichen
oder der
geistigen Kräfte
zu berufen, die sie so faszinierten. Ihre Konversation streifte also ruhig dahinplätschernd alle Gemeinplätze, die es zu dem Thema gab – Tarot, das Zweite Gesicht, Horoskope, Telepathie, Reden mit Pflanzen und anderen Zeitgeist-Aberglauben –, ohne Roetgen auf die Nerven zu gehen, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Sie gestand ihm irgendwann, dass sie sich ein Kind wünschte, und er ihr, dass er Gedichte schrieb. Es hatte eine sehr persönliche Wendung genommen, als Moéma sie auf einmal unterbrach:
    »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte sie, ohne den Blick von dem Lichtfleck zu wenden, der vor ihren Füßen zitterte. »Ich meine, stellen die Indios jemals diese Art Fragen? Woher beziehen die überhaupt ihr Zeitgefühl? Das ist eine ernste Frage, Professor, kein Scherz …«
    Roetgen antwortete ausführlich, mit allerlei illustrierenden Beispielen aus der Literatur. Besonders sprach er über den Bananenkalender, ohne zu bemerken, dass er sich dabei eher an Thaïs wandte als an die eigentliche Fragestellerin.
    Dann folgte ein spektakulärer Sonnenuntergang über der Seepromenade; konzentriert versuchten sie alle, den »grünen Strahl« zu erspähen. Irgendwann stand Xavier auf und meinte, er hätte die Rumsitzerei satt, sie müssten wohl mal was essen, wenn sie nicht bei kleinem Feuer auf den verfluchten Liegestühlen geröstet werden wollten …
    »Der Leichnam!«, rief er emphatisch, »ein Etwas, für das es

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