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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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offenbar nicht ganz weiß, wo sie gelandet ist … Ich könnte wetten, sie raucht noch einen kleinen Joint, bevor es ins Bett geht …«
    »Wo geht’s denn hin so ganz allein, Rotkäppchen? Mitten in Pirambú, und mit Möpsen, für die man einen Waffenschein braucht …«
    Sie hatten sie umringt. Hände legten sich ihr auf die Schultern, streiften ihren Rücken. Einer der Typen fasste sich zwischen die Beine, während er sie musterte.
    »Aynoré!«, flehte sie, unfähig, ihre Verzweiflung auszudrücken.
    »Wie, Indio, du kennst sie?«
    »Ah, die reinste Klette!« Aynoré spuckte aus. »Nur zu, ihr könnt sie haben …«
    Die Gestalten, die Moéma wegzerrten, hinterließen lange Schleppen aus Licht. Der Raum zwischen den Leibern hatte zu vibrieren begonnen, sie konnte es spüren, es berühren, wie eine magnetische Aura, einen unüberwindlichen Schutzschild.
    Über der Böschung, auf der sie sie zu Boden zwangen, schritt ein Silberreiher zwischen dem Müll einher, so statuarisch wie eine ägyptische Hieroglyphe.

Favela de Pirambú
    Die Prinzessin des Königreichs-das-niemand-betritt.
    Ein guter Tag war das gewesen … Die Leute waren zwar so geizig, als hätten sie Stacheldraht in den Taschen, aber er schaffte es doch immer wieder, dass sie ihm etwas gaben. Geduld und gewusst wie … Nelson zählte noch einmal nach, teilte das Bündel Geldscheine in zwei gleich große Haufen und grub die Metallschachtel aus, in der er seine Ersparnisse verwahrte. Er kontrollierte, dass die Feuchtigkeit den Inhalt der Plastiktüte nicht verdorben hatte, tat den Tageserlös dazu und vergrub alles sorgfältig wieder. Einhundertdreiundfünzigtausend Cruzeiros … Jetzt brauchte er noch dreihunderttausend, um sich den Rollstuhl anschaffen zu können, von dem er träumte. Eine großartige Maschine, die er vor drei Jahren in einem der reichen Viertel gesehen hatte. Verchromte Zierteile, Blinker, Honda-Vierzylindermotor … ein Schmuckstück, das sich einhändig steuern ließ und es auf vierzig Stundenkilometer brachte! Nelson hatte mit allerlei Mühe das Geschäft herausgefunden, wo das Mordsding verkauft wurde, und jetzt bewunderte er es hin und wieder durchs Schaufenster und beobachtete die Preisentwicklung: Zu Beginn seiner Sparaktion, fast unmittelbar nachdem er den Rollstuhl zum ersten Mal gesehen hatte, kostete er einhundertfünfundvierzigtausend Cruzeiros. Heute das Dreifache. Bei der Vorstellung, dass er ihn sich anfangs mit der Summe, die jetzt in der Schachtel war, hätte leisten können, wurde ihm ganz schlecht … Je mehr er zusammensparte, desto teurer wurde der Rollstuhl, als wäre es Absicht, als würde jemand eigens dafür sorgen, dass der Gegenstand seiner Träume für ihn unerreichbar blieb. Doch gegen alle Logik blieb Nelson zuversichtlich: Eines Tages würde er seinen Hintern auf diesen verflixten Rollstuhl klemmen und wie ein junger Lord zum Betteln fahren! Zé würde ihm helfen, den Motor zu frisieren, dann würde er sechzig Sachen schaffen, vielleicht sogar fünfundsechzig! Alles wäre so viel einfacher … Unter der Decke würde kein Mensch mehr sehen, dass er keine Beine hatte, sondern nur so Anhängsel wie von einem totgeborenen Kalb.
    Diese strahlende Vision hatte ihn ganz kribblig werden lassen, und er beschloss, den Güterzug abzupassen; das Schauspiel der funkensprühenden und die Nacht mit Blinklichtern erleuchtenden Lokomotive konnte ihn immer wieder aufheitern.
    Er verließ seine Hütte, ohne den als Tür dienenden Karton in die Öffnung zu stellen. In dieser Welt bestahlen sogar die Armen einander; besser, man ließ alles offen und das Licht brennen, dann sah es so aus, als sei jemand zu Hause. Die Gleise befanden sich nur dreihundert Meter entfernt, er schleppte sich rasch dorthin, ohne Angst vor den Ratten, die ihm fast so schnell auswichen wie tagsüber die Menschen.
    Der beste Beobachtungsposten war gleich hinter Juvenals Hütte. Von dem fast sauberen Sandhügelchen aus konnte man den Zug kommen sehen, dann verlangsamte er beim Signal auf Schritttempo und fuhr keine drei Meter entfernt vorbei. Juvenal hatte sich an den Lärm gewöhnt: Nichts war imstande, ihn zu wecken, außer dem Geruch von Cachaça. Er träumte von Erdbeben und rannte die ganze Nacht hin und her, um den abgrundtiefen Spalten auszuweichen, die sich vor seinen Füßen auftaten.
    Nelson dachte gerade an seine eigenen Marathon-Siege, all die Male, wo er im Traum allein in einem Stadion einlief und unter dem Applaus immer noch

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