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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Lichtoval, das durch ein Loch im Dach auf den Sand fiel. Wolken zogen langsam vorüber. Das »Draußen« gleich dort hinter der dünnen Wand aus Karton und Brettern flößte ihr panische Angst ein. Dann studierte sie die aus Zeitschriften ausgerissenen Schwarzweißfotos, die die Lehmwand neben ihrem Gesicht tapezierten: meist von Lampião, und dann noch von jemandem, dem auf den Fotos mit der Messerspitze die Augen ausgekratzt waren. Unter dem Porträt einer kleinen Amerikanerin, die, eine Bohrmaschine auf dem Schoß, auf ihrem Himmelbett saß – das Kind war von einem Haufen Schrott umgeben, auf dessen Gipfel eine vielfach durchlöcherte Babypuppe aus Zelluloid thronte –, war zu lesen:
    ZERSTÖRUNGSINSTINKT . Robin Hawkins ist gerade erst zwei Jahre alt und gilt unter Psychoanalytikern bereits als exemplarischer Fall. Eines ihrer Lieblingsspielzeuge ist dieser Bohrer, den sie mit Zähnen und Klauen gegen jeden verteidigt, der ihn ihr wegnehmen möchte. In den letzten Wochen hat die liebe Kleine verschiedene Dinge demoliert (Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine etc.), deren Wert sich auf über 2000  Dollar beläuft. Stolz auf ihre frühreife Tochter, ermutigen Mister und Miss Hawkins sie, in dieser Art der Selbstverwirklichung fortzufahren. Allerdings haben sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer panzern lassen.
    Moéma lächelte weder über dieses Echo der Brutalität, noch machte es sie traurig. Sie betrachtete es einfach nur. Das Außenliegende schien von ihren Pupillen abzuprallen. Bis in die Begegnung mit den Dingen hinein fühlte sie sich gedemütigt, beschmutzt, unwürdig, wie eine matte Fliege auf der Milch. Am liebsten hätte sie sich narkotisieren lassen, so unmöglich schien es ihr in der Vorausschau, die kommenden Tage zu durchleben; besser, sie würde in ein, zwei Jahren erst wieder aufwachen – wenn denn Heilung überhaupt möglich war? –, ohne diesen Hass auf die Männer, der ihre Beine lähmte, dieses Angewidertsein, in dem sich Aynoré, Roetgen und alle anderen unterschiedslos mischten.
    Der Engel kehrte zurück, und diesmal sah sie, welche Missbildung ihn zwang, sich auf dem Boden kriechend fortzubewegen. »Die riesenhaften Flügel hindern ihn am Gang«, dachte sie ganz einfach, als würde sich diese Metapher – die, so hatte Thaïs ihr versichert, aus
Die Möwe Jonathan
stammte – wie selbstverständlich aufdrängen. Der Mund des Cherubs bewegte sich immer noch, stets mit einem rührenden Lächeln, eine Stummfilmfigur, hätte man sagen mögen, so eine selige Verwunderung mimte er mit großer Gebärde. Sie ließ ihn ihre sichtbaren Verletzungen mit Jodtinktur betupfen. Die rote Flüssigkeit brannte ein bisschen auf den Abschürfungen, aber Moéma konnte anhand seiner Bewegungen verfolgen, dass sie offenbar keine ernsten Verletzungen erlitten hatte. Dann biss sie in ein Sandwich, das er ihr hinhielt, trank Mineralwasser aus einer ungeschickt geöffneten Flasche und betrachtete seine verhornten Hände, während er sich Schultern und Brust mit einer Salbe aus einer Tube einrieb.
    Sie lag auf dem Rücken und hörte ihm zu. Seine Stimme zeichnete hinter ihren Augen eine endlose Arabeske, eine musikalische Kalligraphie, die man nur zu verfolgten brauchte, um an nichts mehr zu denken.
     
    Dann war der Engel nicht mehr da. Das war sein Vorrecht als Engel, sie begann sich daran zu gewöhnen. Dafür hatte er saubere Kleidung neben sie gelegt, ein T-Shirt, quer darauf eine Werbung für Sahne aus der Schweiz, und beigefarbene Shorts, beide säuberlich in Plastikhüllen gefaltet. Außerdem eine schöne rotgoldene Seife und ein frisches Handtuch.
    Eine Dusche genießen, sich von Kopf bis Fuß abschrubben, sich desinfizieren wie eine Toilettenschüssel … Ohne eine Sekunde zu zögern, schlüpfte sie in den unter freiem Himmel befindlichen Verschlag, der sich hinter der Hütte anschloss, durch eine trübe Plastikscheibe getrennt: drei senkrecht in den Sand gerammte Paletten, ein rostiges, mit Wasser gefülltes Fass, eine leere Konservendose … Die schlichten Verhältnisse in Canoa gewohnt, zog sie sich aus und hockte sich hin.
    Erst als sie schmerzhafte Krämpfe bekam, hörte sie mit der manischen Waschung auf.
    Wieder in der Hütte, zog sie die von ihrem Schutzengel bereitgelegten Sachen an; vorher rieb sie sich noch mit Arnikasalbe ein, wie er es ihr geraten hatte. Ein kleiner, in grünem Plastik eingefasster Spiegel war auf eine Kiste gelehnt, sie nahm ihn ohne nachzudenken zur Hand. Bis auf die

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