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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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dass sie heute abfahren würde, dachte Eléazard immer wieder, während er den großen Umschlag ansah, den Alfredo ihm hinhielt, sie hat es gewusst und hat nichts gesagt …
    »Du lieber Himmel, was ist nur in sie gefahren?«, explodierte er unvermittelt. »Das kann doch nicht wahr sein!«
    »Ich weiß es auch nicht, Lazardinho … Sie hat mir zur Entschuldigung eine kurze Notiz geschrieben, sie müsse nach Italien zurück. Ich fühle mich auch ganz komisch.«
    Eléazard deutete auf den Stapel Zeitungsartikel, die er eben ausgeschnitten hatte und später einsortieren wollte:
    »Gieß dir ein Glas ein und wirf mal einen Blick darauf, wenn du magst.«
    »Gern, ich hab ja sonst nichts zu tun«, meinte Alfredo niedergeschlagen. »Im Hotel ist niemand mehr …«
    Der Umschlag enthielt ein umfängliches Dossier und einen auf Italienisch geschriebenen Brief in einer ausgreifenden, runden Schrift, die jeden Winkel der Seite bedecken zu wollen schien.
    Eléazard, du bist wahrscheinlich überrascht – und traurig, ich weiß –, wenn du erfährst, dass ich einfach so weggefahren bin, aber ich habe einfach nicht den Mut und die Kraft, dir alles von Angesicht zu Angesicht zu erklären. Die Sache ist die: In Wirklichkeit bin ich krank, ich leide an einer Art Blutkrebs, den die Ärzte nicht identifizieren können. Eine ansteckende, rasch um sich greifende Krankheit jedenfalls. Meine Lebenserwartung beträgt nur noch Monate, höchstens ein oder zwei Jahre, falls mein Körper der Krankheit etwas besser standhält, das gibt es offenbar bisweilen … Merkwürdigerweise ist es gar nicht mal das Schlimmste, bald sterben zu müssen – diese Tatsache ist derart unerträglich, dass das Gehirn irgendwann abschaltet und eine Art Hoffnungsendorphine auszuschütten scheint, um sich selbst zu betrügen und uns so tun lässt als ob, bis zum nächsten Einbruch. Nein, das Schrecklichste ist diese hartnäckige Illusion, dass man es doch irgendwie schaffen wird zu überleben, das ist mir hier sehr viel klarer geworden als in Italien. Ich erspare dir die Details zu der Einsamkeit, die daraus resultiert, zu der Sehnsucht, der Angst, dem riesigen Wunsch, nicht einfach kaputtzugehen, sondern weiterzuexistieren … Aber nun, basta.
    Ich lasse dir das Buch von meinem Nachttisch da. Aus ihm habe ich meine ganze Weisheit bezüglich der Strategeme. Der Übersetzer ist ein guter Freund von mir; ich hoffe, du wirst sein Pseudonym zu schätzen wissen …
    So. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, ich kann dich nur von Herzen bitten, mir nicht böse zu sein. Vergiss Kircher ein bisschen, küsse Soledade von mir und geh Moreira bis zum bitteren Ende auf die Eier …
    Ich küsse dich, so wie vorhin, als wir uns verabschiedet haben.
    Loredana
    »Und?«, fragte Alfredo, der ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte.
    »Hast du das gewusst?«
    »Was?«
    »Dass sie schwer krank ist …?«
    »Was soll das für eine Geschichte sein? Nichts hab ich gewusst, glaub mir …«
    Eléazard hielt ihm den Brief hin, damit er sich selbst überzeugte.
    »Entschuldige«, sagte Alfredo nach einem kurzen Blick, »aber Italienisch, na ja …«
    Eléazard strich sich mit beiden Händen das Haar glatt. Unbewusst hatte er wieder angefangen, sich innen auf die Wange zu beißen.
    »War bei dem Brief eigentlich noch ein Buch?«
    »Oh, hätte ich beinahe vergessen.« Alfredo zog ein rot-schwarzes Buch aus seiner Umhängetasche. »Ich weiß gar nicht mehr, wo ich den Kopf habe …«
    Rasch überflog Eléazard die Titelseite:
    Die 36  Strategeme
    Chinesische Geheimschrift über die Kriegslist
    Übersetzt und kommentiert von
    François Kircher
    »Ich glaub, ich brauche auch erst mal was zu trinken«, sagte er trocken.
     
    Nachdem Alfredo gegangen war, schenkte er sich jedes Mal nach, wenn sein Glas auch nur halb leer war. Fast stumpfsinnig las er Loredanas Brief wieder und wieder, grübelte über jede einzelne Formulierung nach, als müsse eine davon ihm das Geheimnis ihres Verschwindens enthüllen. Doch je mehr er über die Worte nachdachte, desto sinnloser kamen sie ihm vor.
    Dann durchblätterte er mechanisch das Buch, das Loreadana ihm dagelassen hatte. Hier und da waren einzelne Passagen angestrichen; nichts aber wies darauf hin, dass das für ihn bestimmt war, wie er es einen kleinen Augenblick lang gehofft hatte. Zwei verschiedene Farben der Anstreichungen deuteten auf zwei zeitlich auseinanderliegende Lektüren mit je eigenen Interessen. Ohne es gesucht

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