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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Lehrer! Oder aber folge mir, & wenn wir sterben müssen, gleichviel, so haben wir wenigstens gesehen!«
    »Gott befohlen also!« Ich bekreuzigte mich & lief los, um Kircher einzuholen, der mir allbereits den Rücken zugewandt hatte und gen Gipfel marschierte.

Alcântara
    Der fliegende Vogel bringt die Botschaft.
    »Und was hältst du von Kircher, ich meine, als Sinologin?«, fragte Eléazard. »Findest du, man kann ihn in irgendeiner Hinsicht als Wegbereiter bezeichnen?«
    »Ich weiß nicht recht«, antwortete Loredana, »es ist seltsam. Außerdem kommt es darauf an, was man unter ›Wegbereiter‹ versteht. Wenn es heißen soll, er hätte als Erster gangbare Wege zum Verständnis der chinesischen Kultur aufgezeigt, auf denen unser heutiger Zugang aufbauen würde, dann auf keinen Fall. In dieser Hinsicht ist sein Werk nichts als eine intelligente – und oft unehrliche – Kompilaton der Arbeiten von Ricci und anderen Missionaren. Aber jedes Mal, wenn er sich daranmacht, die dort gegebenen Fakten zu interpretieren, irrt er sich ebenso fundamental wie bei den ägyptischen Hieroglyphen. Seine Theorien zur Bevölkerung Asiens oder zum Einfluss Ägyptens auf die Entwicklung der chinesischen Religionen sind restlos spinnert. Dasselbe gilt für seine Deutung der Schriftzeichen … Auf der anderen Seite war sein Buch ein großartiges Werkzeug und das erste seiner Art, um Wissen über China im Okzident zu verbreiten: Er ist völlig unparteiisch, außer in Fragen der Religion natürlich, und gibt eine insgesamt ziemlich objektive Darstellung einer Welt, die für die damaligen Europäer so gut wie inexistent war. Und das ist ja schon mal überhaupt nicht schlecht.«
    »So sehe ich es auch«, sagte Eléazard, »obwohl ich finde, es geht noch weiter … Auf seine Art erreichte er dasselbe wie Antoine Galland mit seiner angeblichen Übersetzung von
Tausendundeiner Nacht
: Kircher erschafft einen Mythos, ein geheimnisvolles, übernatürliches China, bevölkert von reichen Ästheten und Gelehrten, ein barocker Exotismus, der auch noch Baudelaire und sogar Segalen in ihren orientalischen Phantasien beeinflusste.«
    »Das dürfte zwar schwer zu beweisen sein«, meinte Loredana nachdenklich, »aber die Idee ist interessant. Kircher als unwillkürlicher Initiator der Romantik … ganz schön ketzerisch, was?«
    »Von der Romantik zu sprechen wäre übertrieben, aber ich glaube, indem er erstmals ein Gesamtbild Chinas lieferte, nicht nur einen Reisebericht, hat er auch den ganzen Katalog von Vorurteilen und Irrtümern fixiert, unter denen das Land bis heute leidet …«
    »Der arme Kircher, du nimmst ihn wirklich schwer in die Mangel!«, lächelte Loredana.
    Diese Bemerkung überraschte Eléazard. In diesem Licht hatte er sein Verhältnis zu Kircher nie gesehen; noch während er sich besann, um Loredanas Meinung zu bestreiten, wurde ihm klar, dass diese Sicht der Dinge bestürzende Perspektiven eröffnete. Recht betrachtet, war seine Art, den Jesuiten permanent in Frage zu stellen, durchaus nicht frei von Ressentiments. Etwas wie die gehässige Reaktion eines verprellten Liebenden oder eines Jüngers, der sich außerstande sieht, das Format seines Lehrers zu erreichen.
    »Ich weiß nicht«, sagte er ernst, »deine Frage verwirrt mich … Ich muss darüber nachdenken.«
    Immer noch prasselte der Regen in den Innenhof. Gedankenverloren blickte Eléazard in die Kerzenflamme, als könnte deren Licht seine Fragen beantworten. Amüsiert beobachtete Loredana seine Reaktion, die ungewöhnliche Wichtigkeit, die er ihren Worten beimaß, und sie spürte, wie ihre Vorbehalte ihm gegenüber allmählich schwanden. Es mochte auch am Wein liegen, aber sie fand es auf einmal übertrieben, dass sie vorhin so bedauert hatte, sich ihm geöffnet zu haben, und sei es auch nur so wenig. Offenbar konnte man sich ihm anvertrauen, ohne Mitleid noch Moralpredigten zu befürchten. Gut, das zu wissen.
    »Ich glaube, ich nehme ihm übel, dass er Christ war«, sagte Eléazard unvermittelt, ohne zu bemerken, wie kurios diese Äußerung nach dem einige Minuten dauernden Schweigen wirken musste. »Dass er … ich weiß nicht genau was verraten hat, trotzdem ist das mein hauptsächlicher Eindruck, trotz der Sympathie, die ich eigentlich für ihn empfinde. Sein ganzes Werk ist so ein Pfusch!«
    »Aber wer hätte deiner Meinung nach zu seiner Zeit Atheist sein können? Du denkst doch nicht, das wäre möglich oder auch nur denkbar gewesen, nicht mal für einen

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