Wo Träume im Wind verwehen
das?«, fragte Mark und zeigte auf das körnige Foto von einem kleinen Hund.
»Oh, das ist Tiny.«
»Süß. Ist das ein Chihuahua?« Maripat lächelte, während sie den schmalen Körper, den übergroßen Kopf und die heraushängende Zunge betrachtete. Der kleine Hund saß auf einem Satinkissen auf Augustas Bett.
Die Kinder warteten auf eine Antwort und sahen mit großen Augen zu Augusta auf.
Diese seufzte. »Tiny. Möchtet ihr wissen, was für ein Hund er war?«
»Ja!«, antworteten Mark und Maripat wie aus einem Munde.
Und da sie so inständig darum gebeten wurde, erzählte ihnen Augusta die Geschichte.
Sie begann an einem Morgen Anfang Juni, als Augusta neun Jahre alt war. Sie war in ihrem Dingi unterwegs, um Blaufische zu angeln. Die Sonne stand hoch am Himmel, aber der Tag war kühl. Sie hatte direkt hinter Pequot Island geankert und ihre Angel ausgeworfen. Zahllose Blaufische zogen vorüber und fraßen sich gegenseitig wie wild gewordene Kannibalen. Augusta holte einen rund fünfzehn Zentimeter langen ein, der gerade von einem größeren Artgenossen verspeist werden sollte.
Das Meer war aufgewühlt, überall sah man Blut und Fischeingeweide. Möwen kreischten über ihrem Kopf. Unvorstellbar gierig waren diese Blaufische. Plötzlich sah sie etwas an der Wasseroberfläche schwimmen. Zuerst dachte sie, es sei die Rückenflosse eines Hais, der auf die Blaufische zuhielt, angelockt vom Geruch der Fischabfälle. Aber der Hai hatte Ohren.
»Granny!«, rief Maripat aus.
»Ja, Liebes. Es war Tiny.«
»Ein Hund? Mitten im Sund?«, fragte Mark.
»Er schwamm schnurstracks auf die Blaufische zu. Ihr müsst wissen, dass Blaufische rasiermesserscharfe Zähne haben. Sie bilden riesige Schwärme, und sie fressen alles, was ihnen vors Maul kommt.«
»Granny, wir wissen alles über Blaufische«, sagte Maripat geduldig.
»Na gut. Wie dem auch sei, ich rettete Tiny vor dem sicheren Tod. Er war spindeldürr und zitterte wie Espenlaub. Er war mehr tot als lebendig. Armer kleiner Chihuahua, dachte ich. Wahrscheinlich gehörte er auf eine Segelyacht und war über Bord gegangen.«
»Du hast ihn also mit nach Hause genommen«, meinte Mark.
»Ich habe ihn ins Haus
geschmuggelt.
Wir hatten bereits einen Hund und zwei Katzen, und meine Eltern hatten gesagt, dass sei genug. Ich brachte ihn in mein Zimmer …« Augusta schloss die Augen und erinnerte sich an die Katzen. Sie hatte einen Kloß im Hals und trank einen Schluck. »Ich gab ihm von Spunkys Futter, aber er wollte nicht fressen.«
»Er war bestimmt furchtbar erschöpft, nachdem er über Bord gegangen war.« Maripat berührte Tinys Bild mit dem kleinen Finger. »Armer Kerl.«
»Das kann man wohl sagen.« Augusta betrachtete das Foto, das sie von Tiny gemacht hatte, auf ihrem rosa Satinkissen. Er hatte still gehalten, hatte brav und gehorsam dagesessen. Sie seufzte. »Er wollte nicht fressen, wollte kein Wasser trinken. Er zitterte wie verrückt, war durchgefroren, weil er so lange im Wasser gewesen war. Ich hatte Angst, dass er sterben würde.«
»Und, ist er gestorben?«, erkundigte sich Maripat Bang.
»Nein. In der Nacht habe ich ihn zu mir unter die Bettdecke genommen. Und die Kätzchen auch, damit sie ihn wärmten. Wir kuschelten uns aneinander wie eine Fuchsfamilie im Bau. Es war gemütlich und warm unter meiner Daunensteppdecke.«
»Du hast ihn gewärmt? Und er hat überlebt?«, fragte Mark hoffnungsvoll.
»Ja. Er hat überlebt.« Augusta runzelte die Stirn und gab den beiden eine weitere Zitronenschnitte. Maripat zögerte, aber Mark vertilgte sie eilends.
»Und er hat sich mit Spunky und Mew-Mew und Licorice vertragen?« Maripat leckte den Puderzucker von ihren Fingern.
»Hm, nein.«
»Nein?«, sagten beide Kinder gleichzeitig mit beunruhigter Miene. Augusta begann sich zu fragen, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, die Geschichte zu erzählen. Sie versuchte abzulenken und brachte die Sprache auf ein erfreulicheres Thema.
»Doch er trank endlich. Zuerst Milch aus einer Puppenflasche, dann aus einer Schale. Ich musste zur Schule, aber vorher brachte ich ihm den Rest von dem Müsli, das ich zum Frühstück gegessen hatte.«
»Er hat sich pudelwohl bei dir gefühlt.«
»Hm. Ich ging sogar mit Spunky zur Schule; er folgte mir auf Schritt und Tritt. Und ich hatte erstklassige Noten«, schweifte Augusta vom Thema ab. »Meine Lehrer sagten, ich sei eine Einserschülerin.«
»Und was war mit Tiny?«, fragte Maripat zaghaft.
»Er musste in meinem
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