Wo Träume im Wind verwehen
Augenblick.
Er jagte, an einer alten Steinmauer entlangschleichend, so tief an den Boden geduckt, dass sie ihn zunächst für einen Schatten hielt. Sein Fell war leuchtend rot, die Schweifspitze schneeweiß. Caroline blieb reglos stehen. Sie beobachtete, wie er sich an ein Backenhörnchen heranpirschte. Er kroch langsam vorwärts, Stein für Stein. Sein Nackenfell war gesträubt, die Schnauze direkt auf die Beute gerichtet. Doch dann hörte er Caroline.
Sie blickten einander an. Carolines Herz schlug bis zum Hals. Er sah aus wie ein Miniatur-Collie, fletschte die Zähne, sprang mit einem Satz auf Caroline zu, peitschte mit dem Schwanz und setzte dann über die Mauer. Caroline hatte keine Angst verspürt. Sie fand den Fuchs nur wunderschön. Die Möglichkeit, wilde Tiere aus nächster Nähe zu beobachten, war das Beste beim Bergsteigen, und sie verstand nicht mehr, wie sie ein solches Geschöpf jemals hatte töten können. Es widerstrebte ihr zutiefst, entsprach nicht ihrem Wesen. Dennoch vermochte sie sich in allen Einzelheiten an das rauchende Gewehr und die Wimpern auf Ihren Wangen zu erinnern. Sie hatte die Augen geschlossen, um sich den Anblick zu ersparen.
Zu Hause angekommen, stand Caroline schwer atmend in der Küche. Sie trank ein Glas kaltes Wasser und versuchte ruhig zu werden. Von den eigenen Erinnerungen und dem Geist des Fuchses verfolgt, blickte sie aus dem Fenster.
Sie trug Khakishorts und ein langärmliges blaues Männerhemd mit aufgerollten Ärmeln. Ihre Haare waren offen und hingen ihr auf die Schultern. Sie kickte ihre Bergschuhe von den Füßen, zog sich aus und dachte gerade, wie gut ihr die heiße Dusche tun würde, als das Telefon läutete. Nackt ging sie ins Schlafzimmer und hob ab.
»Ja bitte?«
»Hallo, Caroline, ich bin’s. Joe.«
Sie hatte nicht erwartet, seine Stimme zu hören, und brachte kein Wort über die Lippen.
»Bist du noch dran?«
»Ja, natürlich. Hallo.«
»Wie geht es deiner Schwester?«
»Keine Ahnung.« Caroline hatte Skye seit der Szene am Strand nicht mehr gesehen.
»Es tut mir Leid, dass ich mich nicht verabschiedet habe, und ich bedaure sehr, was auf deinem Ball passiert ist. Ich wollte dir das Fest nicht verderben …«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hätte meiner Mutter sagen sollen, dass du kommst. Ich hatte mir wohl eingebildet, ich könnte verhindern, dass ihr euch begegnet.«
Es knisterte in der Leitung; wahrscheinlich waren die atmosphärischen Störungen bei einem Anruf auf See normal.
»Unsere Familien. Das ist einer der Gründe für meinen Anruf«, sagte er. »Ich würde mir gerne Firefly Hill ansehen.«
»Ich verstehe.«
»Glaubst du, das wäre möglich? Ich weiß, dass deine Mutter mich nicht in ihrem Haus haben will, und ich kann es ihr nicht verdenken. Aber ich möchte den Ort sehen …« Er brach ab.
»Das kann ich arrangieren.« Bedeutete das, dass er sich anschickte, die Gegend zu verlassen? »Wann?«
»So bald wie möglich. Morgen werden wir die große Truhe heraufholen. Das wird den ganzen Tag in Anspruch nehmen. Danach sind wir fertig. Also ab übermorgen.«
»Wie wär’s mit Mittwoch?«
»Mittwoch passt mir ausgezeichnet.«
Sie verabredeten, sich bei ihr zu treffen, und Caroline erbot sich, ihn nach Firefly Hill zu fahren. Sie würde dafür sorgen, dass ihre Mutter nicht zu Hause war, um weitere dramatische Auseinandersetzungen zu vermeiden.
»Caroline?«
»Ja?«
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung, bis auf das atmosphärische Knistern.
»Danke«, sagte er. Dann legte er auf.
Zwei Nächte später machte Simon sich nicht einmal die Mühe, sich ins Haus zu schleichen. Der alte Porsche röhrte mit voll aufgedrehter Stereoanlage die Auffahrt hinauf, sodass Skye aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Er kam durch die hintere Tür ins Haus, die mit einem Knall ins Schloss fiel. Er öffnete den Kühlschrank, schenkte sich ein Glas Wein ein, dann stapfte er die Treppe hoch.
Als er das gemeinsame Schlafzimmer betrat, besaß er wenigstens den Anstand, sich leiser zu bewegen. Da er nicht damit rechnete, dass Skye wach war, stand er einen Moment lang am Fenster, trank seinen Wein und betrachtete den Mond auf dem Wasser. Vermutlich dachte er an das Bild, das er malen wollte. Er würde es
Nocturne Nr. 62
nennen. Oder wie immer die Zahl auch lauten mochte, weil er alle seine Bilder Nocturne irgendwas nannte. Vermutlich kalkulierte er bereits im Kopf den Preis, den er verlangen würde.
Er knüpfte sein Hemd
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