Wo Träume im Wind verwehen
Beine sahen knochig und erbarmungswürdig aus. Er hatte einen Mitleid heischenden Ausdruck in den Augen. Caroline stellte sich direkt vor ihn hin und zwang ihn, sie anzuschauen.
»Hallo, Simon.«
»Hallo, Caroline«, erwiderte er, auf der Hut.
»Warum bist du hier?«
Er zog den OP -Kittel von der Schulter und enthüllte einen Mullverband knapp unterhalb des Schlüsselbeins. »Schau dir an, was deine Schwester gemacht hat! Sie hat versucht mich umzubringen! Ich bin schwer verletzt.«
»Tatsächlich? Wie ich sehe, kannst du noch gehen. Auf deinen eigenen Füßen.« Caroline bemühte sich, ihre Wut unter Kontrolle zu bringen.
»Sie haben mich wieder zusammengeflickt.«
»Sieh mich an, Simon.« Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte in seine blutunterlaufenen Augen. »Ich bin größer als Skye.«
»Na und? Sie hat auf mich eingestochen!«
»Ich bin auch größer als meine Mutter.«
»Du bist verrückt, Caroline. Weißt du das? In eurer Familie hat niemand mehr alle Tas …«
»Du hast sie verletzt!« Carolines Stimme wurde gefährlich leise. Sie streckte die Hand aus und packte ihn am Kinn. Sie hätte ihn am liebsten erwürgt, um dem höhnischen Grinsen in seiner hässlichen Visage ein Ende zu setzen.
»Du hast meine Schwester und meine Mutter verletzt. Die beiden haben nicht die Kraft, sich zu wehren. Sie haben dir mehr Liebe entgegengebracht, als du jemals verdient hast, und du hast es ihnen damit vergolten, dass du sie krankenhausreif geschlagen hast.«
»Sie haben mich angegriffen!« Er versuchte ihre Hand wegzustoßen.
»Dich angegriffen? Wer?«
»Die beiden Miststücke! Die sind doch nicht mehr ganz dicht!«
In dem Moment hakte es bei Caroline aus. Sie stürzte sich auf Simon, trommelte mit den Fäusten auf ihn ein und riss an seinen Haaren. Bei der Vorstellung, wie er Skye zugesetzt und ihre Mutter geschlagen hatte, sah sie rot. Sie hörte sich selbst schreien, spürte, wie die Schläge seine Brust trafen, die Brust eines Ungeheuers.
»Hast du versucht meine Schwester zu vergewaltigen?«, schrie sie.
»Aufhören!«, befahl eine laute Stimme. Sie spürte, wie sie zurückgerissen wurde, und blickte in das breite Gesicht eines Wachmanns.
»Leck mich am Arsch!«, brüllte Simon und wich vor ihr zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte eine junge Krankenschwester besorgt. Caroline dachte, Simon sei gemeint, doch dann sah sie, dass sie mit ihr sprach.
»Holt die Polizei, verdammt! Dieses Miststück gehört hinter Gitter!«
»Er hat meine Mutter und meine Schwester verletzt!« Caroline funkelte ihn wutentbrannt an.
»Ich brauche ein Mittel gegen die Schmerzen. Meine Brust brennt wie Feuer!«
»Ganz ruhig«, erwiderte die Schwester. »Der Arzt kommt gleich.«
Sie nahm Caroline am Arm und führte sie ins Wartezimmer. »Überlassen Sie das der Polizei«, sagte sie. »Ich kann Sie gut verstehen. Wenn meine Mutter und meine Schwester ins Krankenhaus eingeliefert worden wären, würde ich dem Kerl auch am liebsten den Kragen umdrehen. Aber so bringen Sie sich nur mit dem Gesetz in Konflikt, und wem wäre damit geholfen?«
»Sie haben Recht, niemandem.« Caroline zitterte am ganzen Körper. Sie hoffte, dass sie Simon Schmerzen zugefügt hatte. Sie empfand keine Gewissensbisse oder Bedauern, nur den Wunsch, sie wäre in der Lage gewesen, ihm noch schlimmere Prügel zu verabreichen. Als sie aufschaute, sah sie Clea auf sich zulaufen.
»Kann man dich nicht eine Minute alleine lassen!«
»Nein.«
»Du bringst dich nur in Schwierigkeiten. Ich würde es vorziehen, dich nicht im Gefängnis besuchen zu müssen.«
»Du bist doch bloß sauer, weil du ihn nicht als Erste zwischen die Finger gekriegt hast.«
»Hast du getroffen?«
»Ich glaube schon. Meine Fäuste tun jedenfalls höllisch weh.«
»Das ist ein gutes Zeichen«, erwiderte Clea lächelnd.
Caroline schüttelte ihrer Schwester die Hand, dann setzten sie sich und warteten, etwas über das Befinden der Menschen zu hören, die sie liebten.
In Sams Kopf pochte es, als ob tausend Wale mit der Schwanzflosse gegen seine Schädeldecke schlügen. So schlecht hatte er sich seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr gefühlt, als er beim Segeln einen Unfall gehabt hatte. Er befand sich im Krankenhaus, lag im Bett und starrte das Fernsehgerät an, das er nur verschwommen wahrnahm. Er hatte seine Brille in Reichweite, doch als er sie aufsetzte, wurden die Kopfschmerzen noch schlimmer. Er nahm sie wieder ab, auch wenn er alles dreifach und so
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