Wo Träume im Wind verwehen
heißt.«
Caroline fand Skye in einer ringsum von Vorhängen abgeschirmten Kabine in der Notaufnahme.
Skye Renwick Whitford sah mit ihren weißen Bandagen, den weißen Laken und der perlweißen Haut wie ein Engel aus, wären da nicht die purpurfarbenen, schwarzen und roten Prellungen gewesen. Ihre hellen Wimpern lagen auf den hohen Wangenknochen. Sie wirkte schmal und zerbrechlich, glich eher einem Kind als einer erwachsenen Frau. Bei ihrem Anblick wurde Caroline von ihren Gefühlen überwältigt, sodass sie über sich selbst den Kopf schütteln und um Fassung ringen musste.
Sie liebte ihre kleine Schwester von ganzem Herzen, so sehr, dass es schmerzte. Caroline blieb neben ihrem Bett stehen und betrachtete sie. Skye lag bewegungslos da. Atmete sie überhaupt noch? Erleichtert sah Caroline, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Skyes schmaler Mund war leicht geöffnet unter der kühlen grünen Sauerstoffmaske, die Oberlippe wies eine Schnittwunde auf und war geschwollen. Ihre bläulichen Augenlider zuckten im Traum.
Caroline nahm behutsam Skyes Hand. Es war die Hand einer Bildhauerin, rau wie die eines Arbeiters. Unter ihren schmutzigen Fingernägeln befanden sich Farb- und Tonreste. Als Caroline die kleine Hand an ihre Lippen führte, roch sie Terpentin.
»Skye«, flüsterte sie, »kannst du mich hören?«
Skye antwortete nicht.
»Das war keine Absicht, oder?«, sagte Caroline beschwörend. »Du warst zu schnell unterwegs, hast die Kontrolle über den Wagen verloren und bist von der Straße abgekommen!« Nach einer Weile versuchte Caroline es noch einmal: »Skye? Warum wolltest du zu Joe?«
Ein Blick auf Skyes Gesicht ließ Caroline verstummen. Ihre Augen waren geschlossen, aber unter ihren Lidern quollen Tränen hervor und liefen über ihre Wangen. Bewegten sich ihre Lippen unter der Maske? Die Sauerstoffzufuhr war laut und mutete unwirklich an. Skye hob die Hand und zog die Maske weg.
»Ich habe es nicht bis zum Dock geschafft«, flüsterte sie.
»Nein.«
»Jetzt klingt es bestimmt albern, aber in dem Augenblick machte es Sinn.«
»Sag es mir trotzdem.«
»Ich hasse es, nüchtern zu werden«, flüsterte Skye. »Mein Kopf schmerzt, und ich komme mir idiotisch vor. Bring mich hier raus.«
»Das kann ich nicht. Zumindest nicht im Moment.«
»Vielleicht hat sein Vater einen Fehler gemacht und die falsche Person erschossen.« Skye berührte ihr lädiertes Gesicht.
»Die falsche Person«, wiederholte Caroline benommen. Sie spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. »Wen hätte er denn erschießen sollen?«
»Mich.«
»Du warst doch noch gar nicht auf der Welt. Mom war mit dir schwanger!«
»Ich wünschte, er hätte mich stattdessen erschossen. Dann wäre ich gar nicht erst geboren.«
»Wenn du nicht geboren wärst, wärst du nicht meine Schwester geworden«, erwiderte Caroline, ihr Gesicht dicht neben Skyes. »Dann hätten Clea und ich dich nie kennen gelernt. Sag so etwas nicht!«
»Ich wäre keine Mörderin.«
»O Skye!« Carolines Augen füllten sich mit Tränen. Es lief immer auf das Gleiche hinaus. Wie hätte es auch anders sein können?
Skyes Körper krümmte sich; vielleicht hatte sie Schmerzen, Entzugserscheinungen oder bekam die Nachwirkungen des Narkosemittels zu spüren. Ihre Stimme klang erstickt, ihre Worte waren kaum zu verstehen. Caroline wünschte, ihr Vater wäre hier. Wenn er Skyes Qualen mit angesehen hätte, hätte er ihr mit seinen rauen Händen liebevoll über den Kopf gestrichen und ihr gesagt, dass sie sich endlich selbst vergeben müsse. Sein Fehltritt hatte sie überhaupt erst dahin gebracht, wo sie sich heute befand. Caroline drückte Skyes Hand. Sie überlegte krampfhaft, was sie sagen sollte, suchte nach tröstlichen Worten, aber sie fühlte sich selbst viel zu aufgewühlt.
»Joe soll kommen«, sagte Skye.
»Warum? Was willst du von ihm?«
»Zwischen uns besteht eine besonders enge Verbindung. Spürst du das nicht?«
»Früher schon.«
»Nein, jetzt. Mehr als jemals zuvor!« Skyes Stimme war kaum zu vernehmen.
Caroline hielt ihre Hand und schwieg.
Später, im Wartezimmer, senkte sie den Kopf, damit niemand ihr Gesicht sah. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Mit einsdreiundneunzig war Hugh Renwick ein stattlicher großer Mann und bärenstark. Seine Lebensphilosophie entsprach seiner Statur.
Er liebte die Natur über alles, war exzentrisch als Jäger, Künstler und Mensch und legte Wert darauf, seinen Töchtern alles beizubringen, was andere Männer
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