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Wo Träume im Wind verwehen

Wo Träume im Wind verwehen

Titel: Wo Träume im Wind verwehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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von der Schneeschmelze. Das Wasser schwappte über ihr zusammen, ihre Gliedmaßen waren wie erstarrt und mit dem abgestorbenen Laub des letzten Winters bedeckt. Die schwere Wollkleidung zog sie nach unten. Vor ihr verschwand Skye immer wieder unter Wasser. Als es Caroline endlich gelungen war, die Arme um Skye zu schlingen, näherten sie sich bereits den Stromschnellen. Die brodelnden weißen Strudel zischten in ihren Ohren. Sie spuckte einen Mund voll kaltes Wasser nach dem anderen aus. Geblendet von der eisigen Gischt, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf eine Szene, die einem Albtraum zu entspringen schien – Schlangen sonnten sich auf den abgeflachten Felsen, an denen sie vorbeigeschwemmt wurden. Sie prallten gegen Baumstämme, die im Wasser trieben, zerrissen sich die Kleider an Zweigen, während Caroline mit der einen Hand Skye umklammerte und mit der anderen versuchte nach Ästen und Schlingpflanzen zu greifen.
    Als sie in rasendem Tempo flussabwärts trieben, auf den Wasserfall zu, spürte Caroline die glatten Steine unter Wasser. Die Strömung drohte die Schwestern in den tiefen, wirbelnden Schlund des Flusses zu spülen, sie einzusaugen und wieder auszuspeien. Zerklüftete Felsen versperrten ihnen den Weg, zu glitschig, um sich daran fest zu halten. Der Fluss riss sie mit sich. Caroline überlegte, wie hoch die Wasserfälle sein mochten. Sie war überzeugt, dass der Sturz in die Tiefe nicht mehr aufzuhalten war, und sie fragte sich, ob sie beide sterben würden.
    Doch plötzlich glättete sich der Fluss. Die Stromschnellen gingen in einen breiten, geruhsam dahinfließenden Strom über. Das Tosen wich der Stille, und sie hörten die Vögel zwitschern. Überwältigt von dem Gefühl, mit dem Leben davongekommen zu sein, lachte Caroline vor Freude laut auf. Sie umarmte Skye. Aber Skye erwiderte ihre Umarmung nicht. Ihre Lippen waren blau. Ihre Jacke und die Stiefel zogen sie hinab, und sie war schwer wie ein nasser Mehlsack. Caroline gelang es, sie ans rettende Ufer zu ziehen. Skye lebte, ihre Augen waren offen. Aber sie waren starr, blinzelten nicht und blickten Caroline nicht an.
    »Skye, wir haben es geschafft, wir sind in Sicherheit!«, rief Caroline und rieb die kleinen Hände ihrer Schwester.
    »Hast du sie gesehen?« Skyes Stimme war kaum hörbar, wie erfroren. »Die Schlangen auf den Felsen?«
    »Ja, aber …«
    »Ich will nach Hause, Caroline«, sagte Skye, unfähig, ihre Gefühle länger zu beherrschen. Sie begann hemmungslos zu schluchzen. »Bring mich nach Hause! Bitte bring mich nach Hause!«
    Aber das war nicht möglich. Caroline wäre nicht in der Lage gewesen, ihrem Vater etwas auszureden, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Der Sturz in den eisigen Fluss gehörte dazu, wenn man lernen wollte, sich gegen die Härten des Lebens zu wappnen. Die Schlangen auf den Felsen waren ein anschauliches Beispiel dafür, dass man sich hüten sollte, sich in Gefahr zu begeben. Caroline lernte an jenem Tag eine noch beunruhigendere Lektion: Dass nicht jeder erfreut, beglückt und dankbar war, am Leben zu sein. Ihre Schwester empfand offenbar nicht so wie sie. Und andere auch nicht.
    Hugh hatte sich mit seiner Lebensphilosophie auf dem Holzweg befunden, das wusste Caroline inzwischen. Ihr Vater war tot, offiziell einem Krebsleiden erlegen, aber er war bereits etliche Jahre vorher gestorben, an gebrochenem Herzen. Unfähig zu ertragen, was Skye am Ende widerfuhr, seinem kleinen Augenstern, seiner hübschen Tochter, hatte er sich von seiner Familie abgeschottet und zu Tode getrunken. Dieses Wissen erfüllte Caroline inzwischen mit größerer Bitterkeit als die Jagdausflüge. Weil Skye seinem Beispiel folgte.
    14. März 1973
Lieber, einziger Joe,
ich habe zwei Schwestern, Clea und Skye. Clea ist besser als eine beste Freundin, und Skye ist süß, unser Nesthäkchen. Ich wünschte, wir gingen alle in dieselbe Klasse. Manchmal haben wir einen Heidenspaß daran, uns in einer erfundenen Sprache zu unterhalten, die niemand versteht. Es ist schwer zu erklären, aber ich kenne meine Schwestern so gut, dass ich weiß, was sie denken, und umgekehrt. Das hört sich an wie Zauberei, aber damit hat es nichts zu tun. So ist das eben, wenn man Schwestern hat.
    Deine Freundin
Caroline
    19. Juni 1973
Liebe Caroline,
er ist mit Sicherheit kein Zauberwesen, aber ganz niedlich. Ich meine Sam, meinen kleinen Bruder. Er ist wirklich noch klein, ein Baby, gerade erst zur Welt gekommen. Kreischt die ganze Nacht wie eine

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