Wo Träume im Wind verwehen
zu sein. Aber wir können es nicht bewahren.«
Caroline dachte an den gestrigen Abend, an Joes Kuss. »Vielleicht doch.«
»Ich glaube, dass es mir bestimmt ist, früh zu sterben«, flüsterte Skye.
»Wie wär’s, wenn du stattdessen mit dem Trinken aufhören würdest!«
»Das ist sehr schwer. Auch wenn es aus deinem Mund klingt, als wäre es ein Kinderspiel.«
»Ich denke nicht, dass es leicht ist.«
»Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt aufhören will.«
»Die Entscheidung liegt ganz allein bei dir.« Caroline hörte sich friedfertig an, aber in Wirklichkeit empfand sie das genaue Gegenteil.
Skye reagierte nicht. Sie starrte die Broschüre mit den vierzig Fragen an und runzelte die Stirn, als würde sie sich wünschen, dass sie wie von Zauberhand verschwänden.
Michele warnte Clea: Vorsicht!
Mit Caroline war heute nicht gut Kirschen essen. Sie weigerte sich, den Lachs zu akzeptieren, den der Fischhändler brachte, eröffnete Michele, dass sie Gänseblümchen auf den Tischen in der Bar hasse, und rief eine Gruppe ungebärdiger junger Künstler aus Montreal zur Ordnung, obwohl sie nicht mehr Lärm machten als alle ungebärdigen jungen Künstler im Verlauf der letzten hundert Jahre.
Clea war mit einem Kofferraum voll alter Kleider aufgekreuzt, weil sie von Caroline wissen wollte, was sie und Peter zum Kostümball anziehen sollten. Sie überlegte halbherzig, ob es nicht besser war, sich aus dem Staub zu machen und zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder zu kommen, aber Probleme zu ignorieren hatte keinem Mitglied der Renwick-Familie gut getan. Deshalb betrat sie schnurstracks Carolines Büro, ihr Allerheiligstes.
»Da das Motto dieses Jahr ›Mein Lieblingsgemälde‹ lautet, dachte ich, wir sollten uns wie auf einem von Dads Bildern kostümieren. Meinst du nicht auch?«
»Wenn Dads Bilder allesamt in der Hölle schmoren würden, wäre ich der glücklichste Mensch auf Erden«, erwiderte Caroline und tippte erbost Zahlen in ihre Rechenmaschine ein.
»Dad mag kein Engel gewesen sein, aber eines muss man ihm lassen, er hat wunderbare Bilder gemalt.« Clea trat einen Schritt zurück. Ihre Stimme wurde leise und eindringlich, wie ein SWAT -Unterhändler, der versucht hitzköpfige Terroristen zur Vernunft zu bringen.
»Ich habe Skye heute Morgen besucht«, sagte Caroline.
»Und, wie geht es ihr?«
»Sie wägt ihre Möglichkeiten ab. Ob sie jung sterben will oder lieber das Trinken aufgeben soll.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja. Jung sterben klingt romantisch, findest du nicht? Sich nach allen Regeln der Kunst zu Tode trinken. Schade, dass die Leute dabei immer ein heilloses Durcheinander anrichten. Und so widerwärtig werden.«
»Wie Dad.«
»Wir sollen so tun, als ob wir nicht bemerkt hätten, dass er trank. Oder besser gesagt, wir sollen es ihm nachsehen, weil er Hugh Renwick war.«
»Was meinst du damit?«
»Er hat sich Dinge erlaubt, mit denen kein anderer ungestraft davongekommen wäre. Er hielt sich nicht mit Kleinigkeiten auf; seine Sorge galt den großen Problemen, an denen die Welt krankte. Aus seiner Warte war das Leben düster, unmenschlich und harsch, von den Mächten der Finsternis beherrscht. Stimmt’s? Sein Blick ging in die Tiefe, wie es sich für einen großen Künstler geziemt. Für alles andere war er blind.«
»Warum bist du so schlecht gelaunt?« Clea war verblüfft über Carolines Ausbruch.
»Uns wurden ständig Lügen aufgetischt, um die Wahrheit zu kaschieren. Ist dir das nie aufgefallen?«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass Dad trank, nachdem Skye einen Menschen erschossen hat. Er war voller Schuldgefühle, weil er sie mit auf die Jagd genommen hat, und verschanzte sich in seinem Atelier oder in meiner Bar mit einer Flasche Scotch. Angeblich liebte er uns und wollte uns beschützen, aber stattdessen zerstörte er unser Leben. Was für eine Lüge!«
»Wieso das?«
»Wenn er uns wirklich geliebt hätte, hätte er an unserem Leben teilgenommen. Er war zwar körperlich anwesend, aber innerlich hatte er sich ausgeklinkt.«
»Er hatte keine Hoffnung mehr«, erwiderte Clea leise.
»Aber warum? Wir liebten ihn, trotz alledem. Ich weiß nicht, wie es bei dir war, aber ich hätte ihn gebraucht.«
Caroline kniff die Augen zu. Sie wischte die Tränen verstohlen mit den Zeigefingern weg, während sie ein Schluchzen unterdrückte. Clea sah dem Ringen stumm zu. Caroline würde ihren Gefühlen nie freien Lauf lassen. Warum ihr Vater beschlossen hatte, sich abzuschotten,
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