Wo Träume im Wind verwehen
wusstet ihr, dass ich heute Abend komme?« Er ließ sein Gepäck fallen und umarmte Joe stürmisch. »Es sollte eine Überraschung werden. Und jetzt steht ihr hier draußen und wartet auf mich. »Mist!«
»Ich hatte keine Ahnung«, erwiderte Joe. Er ließ sich von dem jungen Mann umarmen, und Caroline lächelte. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn sich Geschwister nach langer Zeit wieder sehen.
»Hallo«, sagte der Neuankömmling, trat einen Schritt zurück und musterte Caroline. Er hatte ein ansteckendes, offenes Lächeln, und ihr schoss der Gedanke durch den Kopf. So würde Joe aussehen, wenn er rundum glücklich wäre.
»Caroline, darf ich dir meinen Bruder vorstellen, Sam Trevor. Sam, das ist Caroline Renwick.«
Sie gaben sich zur Begrüßung die Hand. Hatte sie es sich eingebildet oder war Sam tatsächlich zusammengezuckt, als er ihren Familiennamen hörte? Eines war ihr heute Abend klar geworden: Der Name Renwick war in Joes Augen ein Fluch, und vermutlich erging es seinem jüngeren Halbbruder nicht anders.
»Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte Caroline.
»Gleichfalls.« Sam grinste von einem Ohr zum anderen. »Wolltet ihr gerade zum Schiff hinausfahren?«
»Nein, ihr Bruder hat mich an Land gebracht«, antwortete Caroline.
»Ja, sie hatte gerade vor, sich zu verabschieden«, sagte Joe ungewollt barsch. Vielleicht behandelte er sie aber auch absichtlich rüde und abweisend.
»Immer noch der alte Griesgram«, meinte Sam lachend. »Bei mir macht er es genauso, aber ich stelle mich mittlerweile taub.«
»Ich wollte nicht …« Joe blickte Caroline zerknirscht an.
Caroline lächelte schief. Sie wusste nicht mehr, welches der echte Joe war, Joe der Boshafte oder Joe der Reumütige. Ungeachtet dessen verstand sie den Wink mit dem Zaunpfahl. Sie wünschte den beiden eine Gute Nacht, stieg in ihren Wagen und verließ den Parkplatz.
Erst als sie die Hauptstraße erreichte, sah sie östlich am Himmel einen Lichtblitz, ein kurzes, grelles Aufzucken dicht am Horizont. Dann ein weiterer Lichtblitz, höher am Firmament. Sternschnuppen, dachte sie. Es war die Nacht der Perseiden, und sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf Joe Connor gerichtet, auf Vergangenheit und Gegenwart – und auf den Kuss –, und nicht die Sternschnuppen am Himmel gezählt und sich etwas gewünscht.
Die mit Rankenfußkrebsen überkrustete Münze umklammernd, die Joe Connor ihr geschenkt hatte, fuhr Caroline Renwick langsam zu ihrem Gasthof zurück.
5. August 1978
Lieber Joe,
gestern Nacht habe ich von Dir geträumt. Etwas sehr Seltsames. Ich stand auf einem Felsen mitten im Sund, und die Wellen brandeten ringsum gegen die Klippen. Sie drohten mich mitzureißen, als ich plötzlich Dein Boot hörte. Du warst gekommen, um mich zu holen. Ich hörte, wie die Riemen ins Wasser eintauchten, und mein Herz klopfte zum Zerspringen; ich dachte, ich müsste ertrinken. Aber ich wusste die ganze Zeit, dass Du kommen würdest, Joe. Du auch. In meinem Traum sahst Du genau wie Du aus. Komisch, dabei wüsste ich in Wirklichkeit nicht, ob ich Dich überhaupt erkennen würde. Ich denke aber schon, nur aus Deinen Briefen. Bin ich froh, dass ich diesen grässlichen Traum überlebt habe.
In Dankbarkeit
C.
14. August 1978
Liebe C,
meinst Du, ich würde rudern, wenn ich wüsste, dass Du kurz vor dem Ertrinken bist? Ich würde das schnellste Motorboot nehmen, das ich kriegen kann.
Alles Liebe
Joe
PS : Ich habe auch schon darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, wenn wir uns im wirklichen Leben begegneten.
[home]
9
S kye, die immer noch in der Klinik lag, brannte darauf, alles zu erfahren. Wenn sie den Geruch nach Desinfektionsmitteln, die vorbeieilenden Krankenschwestern und die Tatsache ignorierte, dass Skye mitten am Tag einen Pyjama trug, konnte sich Caroline beinahe vorstellen, sie wären zwei Schwestern, die beim Kaffeeklatsch saßen. Nur dass es sich in Wirklichkeit um Tee handelte, lauwarm und in Pappbechern.
Und das Gesicht ihrer Schwester war mit blauen Flecken übersät, gelb und purpurfarben schattiert an den Stellen, wo sie verblassten.
»Wie ist er so?«
»Er hat ein beeindruckendes Schiff«, antwortete Caroline ausweichend. »Es sieht aus wie ein schwimmendes Labor, mit Hochtechnologie voll gestopft, einfach unglaublich. sie können die Sedimente und Objekte an Ort und Stelle analysieren …«
»Ich rede nicht vom Schiff, sondern von ihm.«
»Schwer zu sagen, er hält sich bedeckt.« Caroline errötete, als sie sich
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