Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
weiß, wo Alex ist und für wie lange. Leider lässt sich das nur selten feststellen. Wenn Alex seinen Koffer packt und ich frage, wann er wiederkommt, tut er erstmal so, als habe er meine Frage nicht gehört. Ich hake nach. Drei oder vier Tage, sagt er dann. Oder fünf oder sechs Tage. Er stapelt immer tief.
»Ich hab ja noch nicht mal angefangen, wie soll ich dann wissen, wann ich fertig bin?«, fragt er.
Früher, als Ferdinand ein Baby war und ich mit ihm alleine zu Hause saß, hat mich das verrückt gemacht, ich habe sehnsüchtig auf Alex gewartet, Abendbrot vorbereitet, ihn angerufen und gefragt, wann er kommt, und wenn er dann nicht kam, war ich tief enttäuscht. Einmal habe ich Ferdinand ins Auto gepackt und bin in das Bistro neben dem Berliner Verlag gefahren. Dort saß er, wie ich es vermutet hatte, mit zwei Kollegen vor einer großen Pizza und sah mich an, erschrocken, aber auch ein bisschen erfreut, mich und seinen kleinen Sohn hier so unverhofft zu sehen. Alex sah selbst aus wie ein großer Junge mit seinen langen Locken und der großen Brille. Und ich stand da, mit dem drei Wochen alten Ferdinand auf dem Arm, unserem Sohn, und wusste nicht mehr, was ich hier wollte. Ich wusste nur, dass ich alleine klarkommen muss.
Es war eine traurige und bittere Erkenntnis. Sie hat mich erwachsener gemacht und unabhängiger, vielleicht auch stärker. Ich warte nicht mehr auf Alex. Ich bastele mir aus seiner Planung meine eigene. Wenn Alex sagt, er wird drei Tage weg sein, rechne ich mit fünf Tagen. Aus einer Woche können gut und gerne zehn Tage werden. Und aus zwei Wochen drei. Meine Planung geht fast immer auf, und wenn Alex doch mal pünktlich wiederkommen sollte, ist das eine schöne Überraschung.
Meine Freundinnen fragen mich, wie ich das aushalte, dass Alex so oft weg ist. Ich frage sie, wie sie es aushalten, dass ihr Mann immer da ist. Ich stelle mir vor, wie sie mit ihren Gatten abends auf dem Sofa sitzen und die Acht-Uhr-Nachrichten sehen und danach vielleicht noch den Samstagabendfilm. Noch ein Gläschen Wein, Schatz? Bist du schon müde? Ich gehe schon mal ins Bett, du kommst ja sicher bald nach.
Ich denke daran, wie Walter am Abendbrottisch die Augen zufallen und Debbie heimlich die Jahre zählt, bis Derek aus dem Haus ist und sie sich endlich von ihrem Mann trennen kann. Ich kenne viele Frauen, die nur noch wegen der Kinder mit ihren Männern zusammenleben, die solange den schönen Schein wahren wollen, bis alles auseinanderfällt.
Als Mädchen träumte ich von einem Mann, der alles für mich tut, der immer für mich da ist, mit dem ich alles zusammen mache. Eine Frau wie mich hätte ich wahrscheinlich bemitleidet. Inzwischen genieße ich es, alleine zu sein, meine eigene Energie, meine eigene Ordnung, meinen eigenen Rhythmus zu haben. Alex und ich verbringen zwar nicht jede freie Minute miteinander, aber wir freuen uns aufeinander, wir haben uns etwas zu erzählen, wenn wir uns wiedersehen, es wird nie langweilig mit ihm.
Es ist, als ob ich in zwei verschiedenen Welten lebe. Die Welt mit Alex ist aufregend, überraschend und chaotisch. Meine eigene Welt ist ruhig, organisiert, weiblich. In den fast zwei Jahren, die ich jetzt hier lebe, habe ich mir ein Netzwerk geschaffen, das vor allem immer dann aktiv wird, wenn Alex auf Reisen ist. Es ist weniger mein Verdienst als das meiner Freundinnen. Barbara, eine Künstlerin aus Frankfurt, wohnt auf der anderen Seite unseres Backyards , sie hatte von ihren Nachbarn gehört, dass eine Deutsche in die Carroll Street gezogen war, ließ sich die Telefonnummer geben, rief an und fragte, ob wir mal einen Kaffee zusammen trinken wollen. Barbara stellte mich dann Tinna vor, einer Schwedin mit einem Sohn in Ferdinands Alter. Die Italienerin Sara lernte ich durch die Opernsängerin aus Debbies Laden kennen, und Sara wiederum machte mich mit Solveig bekannt, einer Dresdnerin, die sich vor dem Mauerfall in einen amerikanischen Juden aus Brooklyn verliebt hatte.
Wir treffen uns nach der Schule, gehen mit den Kindern in den Park, sitzen auf unserer Terrasse, trinken Tee oder Wein, kochen zusammen, gehen ins Kino oder zu Ausstellungseröffnungen in Manhattan. Das ist das Gute an New York und an den New Yorkern: Sie nehmen Menschen, die neu in die Stadt kommen, gern auf, sie erinnern sich daran, wie es war, als sie selbst hier angekommen sind und niemanden kannten. Ob aus diesen Bekanntschaften Freundschaften werden, ist eine andere Frage. Barbara sagt, in New York
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