Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
dauert es letztlich genauso lange, einen richtig guten Freund zu finden, wie in Berlin oder in Frankfurt, aber der Weg dahin ist angenehmer.
Barbara hat vor mir noch nie eine Ostdeutsche kennengelernt, und wenn wir morgens im Prospect Park joggen, löchert sie mich mit Fragen über Deutschland, über Israel und Amerika. Sie will wissen, was ich denke. Barbara ist die Tochter eines Wehrmachtsoffiziers und einer Jüdin, eine große blonde Erscheinung mit der Energie von drei Frauen. Mit 20 ist sie aus Frankfurt nach Paris gegangen, danach nach London und New York. Zuerst war sie Fotografin, heute macht sie Kunstinstallationen, die meist mit ihren jüdisch-deutschen Wurzeln zu tun haben. Unsere Gespräche drehen sich oft um diese Themen: Wer sind wir? Was wollen wir? Wo gehören wir hin? Barbara fühlt sich in New York zu Hause, aber sie hat Sehnsucht nach Deutschland. Wenn sie im Sommer dort ist, bei ihrer Mutter in Frankfurt, bei ihrer Freundin in Berlin, ist sie nicht so aufgedreht wie in New York, sondern ruhiger und entspannter. Sie hält es allerdings nie lange aus, nach drei, vier Wochen muss sie zurück nach New York, in die wilde, rohe Stadt, in der jeder ein bisschen ist wie sie, heimatlos und auf der Suche.
Kate, Solveig, Tinna, Anja (v. l.).
Ich fühle mich wohl mit Menschen wie Barbara und Tinna und Solveig, die alle mal irgendwann ihre Wurzeln verloren haben. Ich war gerade 22, als die Mauer fiel, ich habe vor unserem Umzug nach New York neun Jahre im vereinigten Deutschland gelebt, aber ich habe keine Ahnung, wer ich bin und wo ich hingehöre. Ich fühle mich weder ostdeutsch noch westdeutsch noch gesamtdeutsch. Hier in New York habe ich manchmal eine diffuse Sehnsucht nach Europa, nach alten Städten, nach Langsamkeit, nach gut angezogenen Menschen, nach Mischwäldern. Der Abstand tut mir gut. Die großen deutschen Probleme werden aus der Distanz kleiner. Ich lerne Dinge zu schätzen, die ich bisher als Selbstverständlichkeit angesehen habe. Die Kinderbetreuung in Berlin, die modernen Arztpraxen, das Sozialsystem, selbst die deutschen Amtsstuben kommen mir weniger bedrohlich vor, und seit mir ein New Yorker Cop auf die Motorhaube sprang, weil ich ein Links-Abbiegen-Verboten-Schild auf der Flatbush Avenue übersehen hatte, weiß ich sogar die muffligen Berliner Verkehrspolizisten zu schätzen.
Am meisten überraschte mich, wie schwer es war, einen Friseur zu finden, der mit meinen Haaren klarkam. Ich hatte mir die Haare vor unserem Umzug abschneiden lassen, ganz kurz. Eine neue Stadt, ein neues Leben, ein neuer Haarschnitt, dachte ich und war mir sicher, in New York, der Modestadt, der Weltmetropole, die besten Friseure der Welt vorzufinden.
Zuerst fiel mir auf, dass Frauen in meinem Alter keine kurzen Haare, sondern fast alle die gleiche Frisur hatten: lang, glattgeföhnt, blond, die Jennifer Aniston-Frisur. Dann wunderte ich mich darüber, dass Tinna, die Schwedin – die bestangezogene Frau im ganzen Viertel –, sich ihre Haare selbst schnitt. Sie sagte, es sei ihr zu teuer, aber das war nur ein Teil der Wahrheit, wie ich bei meinem ersten Friseurbesuch begriff. Ich hatte lange überlegt, für welchen der vielen Frisiersalons in der 7 th Avenue ich mich entscheiden sollte. Ich ging nach dem äußeren Eindruck und probierte es in einem Salon, der ziemlich stylish wirkte mit seinen alten Frisierstühlen, den hohen Decken und abgezogenen Dielen. Der Friseur, ein Mann in Jeans um die 60, betrachtete mich von allen Seiten, dann legte er eine Rolling-Stones-CD ein, band einen Umhang um meinen Hals, kippte meinen Kopf nach hinten auf die Waschbeckenkante und schrubbte, bis mir die Augen tränten. Danach nahm er einen Rasierapparat und fing an, ziellos an mir rumzurasieren, überall ein bisschen, dabei tanzte er um meinen Stuhl herum. Wahrscheinlich hatte er noch nie einer Frau die Haare so kurz geschnitten, wahrscheinlich war ich seine erste Europäerin oder er hatte gerade einen Joint geraucht. Keine Ahnung. Immer wenn ich dachte, er sei endlich fertig, trat er zurück, begutachtete sein Werk, runzelte die Stirn und begann wieder von vorne. Ich schloss die Augen, und als ich sie wieder öffnete, guckte mich der blasse Olaf Schmidtmann aus meiner Schulklasse in Berlin-Lichtenberg an. Olaf Schmidtmann trug Igel. Ich bezahlte, ging drei Wochen lang nur noch mit Mütze aus dem Haus und ließ meine Haare wieder wachsen. Sie sind schon wieder fast so lang wie damals in Berlin.
Ich checke kurz meine
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