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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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gehe, das so ist wie Mascha, halb deutsch, halb amerikanisch. Die Steiff-Ente auf ihrem Bett habe ich im alternativen Spielzeugladen in Charlottenburg gekauft, den großen Plüsch-Winnie-Pooh-Bär hat Debbie ihr zu Weihnachten geschenkt, es gibt die Lotta-aus-der Krachmacher-Straße-Kassette und die Dschungelbuch-CD, die weiche Play-Doh- Masse und die harte deutsche Knete, das Puppentheater, den Kaufmannsladen, die Wimmelbücher. Das deutsche Spielzeug hat die Nase vorn, gerade noch so. Ich nehme die Tüte mit den Bummiheften und Bastelsachen vom Tisch, die wir aus Berlin mitgebracht haben. Die Bummihefte hat sie von ihrer Oma bekommen, den Bastelbogen von meiner Freundin Annett. Es ist so ein altmodischer knallbunter Hampelmann mit einer Geige in der Hand. Er heißt »Der kleine Hampelgeiger« und gehört auch zu den Dingen, die mich an Deutschland erinnern, an Kinderkarussells, Drehkreisel, Holzspielzeug.
    Als ich durchs Wohnzimmer gehe, fällt mein Blick auf den Fernseher und ich sehe im Vorbeigehen, wie ein Flugzeug in Zeitlupe aufs World Trade Center zufliegt. Ich wundere mich, woher plötzlich diese Aufnahme kommt, warum es immer Leute gibt, die ausgerechnet in dem Moment, wenn Katastrophen passieren, aus dem Fenster gucken und ihre Videokamera zur Hand haben. Aber etwas stimmt nicht, etwas ist merkwürdig an dem Bild und dem Flugzeug. Ich bleibe kurz stehen, die Bastelsachen in der Hand, und dann zieht es mir fast die Beine weg. Es ist die plötzliche Erkenntnis, dass dies hier nicht das Flugzeug war, das vor einer halben Stunde ins World Trade Center geflogen ist, sondern ein anderes, ein zweites.
    Ich lasse mich aufs Sofa fallen und sehe die gleiche Aufnahme in der Wiederholung. Diesmal ist es ganz klar zu erkennen. Aus einer Kurve heraus zielt das Flugzeug mit seiner Schnauze auf den brennenden Turm und verschwindet dahinter. Dann wechselt die Perspektive, man sieht die beiden Türme jetzt nebeneinander, nicht hintereinander stehen, einer brennt, der andere nicht. Das Flugzeug kommt, fliegt mitten in den zweiten Turm, er geht in Flammen auf.
    »Mama«, ruft Mascha. Sie sitzt schon am Küchentisch, sie will den kleinen Hampelgeiger zusammenbasteln. »Gleich, meine Süße«, sage ich abwesend und drehe den Fernseher lauter.
    Die CNN -Sprecherin sagt, dass eines der Flugzeuge, die ins World Trade Center geflogen sind, eine American Airlines Maschine war, eine Boeing 767, die von Boston aus gestartet ist. Es handle sich eindeutig nicht um einen Unfall.
    »Und um was handelt es sich dann?«, frage ich, aber niemand außer Mascha kann mich hören. Und Mascha schaut mich nur verwundert an. Ich hasse es, in Momenten wie diesem alleine zu sein. Ich will mit Alex sprechen, jetzt, sofort. Er denkt wahrscheinlich immer noch, dass es eine Explosion war, der Knall vorhin, und weiß nichts von dem zweiten Flugzeug. Ich drücke die Zahlen seiner Handynummer auf dem Telefon, aber bevor ich fertig bin, klingelt es bei mir.
    »Anja?«, fragt eine aufgeregte Frauenstimme.
    »Hallo, Mama«, sage ich.
    »Seid ihr zu Hause? Geht's euch gut?«
    Ich beruhige mich sofort, das ist immer so, wenn Menschen noch aufgeregter sind als ich. Ich sage, dass ich mit Mascha zu Hause bin, Ferdinand in der Schule und Alex nach Manhattan gefahren ist, um zu sehen, was los ist. Das hält sie für eine gute Nachricht. Sie hatte Angst, dass wir uns gerade in der Nähe des World Trade Centers aufgehalten haben könnten, als die Flugzeuge einschlugen, sagt sie. Man wisse ja nie. Sie selbst ist ja auch neulich erst dort gewesen, im Juli, als sie mit meiner Nichte zu Besuch in New York war. »Weißt du noch, da war doch dieser Politiker, der Wahlkampf gemacht hat, einer von den Republikanern, der so nett geredet hat. Es war der Tag, an dem wir über die Brooklyn Bridge gelaufen sind, und danach waren wir in Chinatown.«
    »Ja, ja, Mama«, sage ich und staune mal wieder über ihre Begeisterung für New York. Meine Mutter ist Lehrerin, ich kenne sie eher als vorsichtige Frau. Als Kind hat sie mir beigebracht, lieber den Mund zu halten, als was Falsches zu sagen. Aber seit wir in New York sind, ist sie ganz aus dem Häuschen. Sie bringt uns zum Flughafen, sie holt uns vom Flughafen ab. Sie kommt im Winter her, wenn es eiskalt ist, und im Sommer, wenn man vor Hitze kaum atmen kann. Sie geht mit Ferdinand ins Klassenzimmer, erkundigt sich, wie seine Lehrer unterrichten, lässt sich Elternbriefe von mir übersetzen und ist begeistert von der persönlichen,

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