Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
herzlichen Art, mit der sich Lehrer und Kinder begegnen. Es gibt keinen Menschen, der uns so oft hier besucht hat, der so sehr Anteil an unserem Leben nimmt wie sie. Ich glaube, sie begreift New York als Chance, ihre eigene Welt zu vergrößern. Alleine hätte sie sich wahrscheinlich nie hierher getraut, in diese große, fremde Stadt, aber nun sind wir hier. Und New York ist nicht mehr groß und fremd, sondern einfach nur die Stadt, in der ihre Tochter und ihre Enkelkinder wohnen.
»Wie hieß der nochmal, der Politiker?«
»Bloomberg«, sage ich und sehe das dritte Mal, wie das Flugzeug in den Turm einschlägt. Es knallt. Bei meiner Mutter knallt es auch. Ich kann es durchs Telefon hören. Sie hat den Fernseher an, sieht die Bilder, die ich sehe. Wir haben dieselbe Perspektive, nur dass zwischen ihr und den Türmen der Ozean liegt und zwischen mir und den Türmen nur der East River.
»Auweia«, ruft meine Mutter, und dann kommt eine Weile nichts. Wir gucken fern – sie in Berlin, ich in Brooklyn. Ich höre ihr Atmen, als würde sie neben mir sitzen.
Auf CNN wird eine Zeile eingeblendet, dass jetzt alle Flughäfen in New York geschlossen sind.
»Meinst du, ihr seid sicher?«
»Klar, Mama.«
»Und Alex?«
»Der passt schon auf sich auf.«
»Ein Glück, dass ihr nicht nach Manhattan gezogen seid.«
»Mama, kann ich dich später nochmal anrufen? Ich versuche mal, Alex zu erreichen.«
»Ja klar, Anjachen. Gib Mascha einen Kuss von mir.«
»Mach ich.«
»Tschüss, Anja.«
»Tschüss, Mama.«
Alex erreiche ich im Auto, in Brooklyn Heights, er sucht nach einem Parkplatz. Er flucht. Er kann nicht mit mir reden. Wirklich nicht. Er muss erstmal einen verdammten Parkplatz finden. Dann legt er auf oder vielleicht ist ihm auch das Handy aus der Hand gefallen, auf jeden Fall ist es plötzlich still in der Leitung und ich bin jetzt doch froh, dass ich nicht mit ihm mitgefahren bin. Ich gehe ihm lieber aus dem Weg, wenn er so unter Druck steht.
I
ch renne jetzt in die Richtung, in der ich die Brücke vermute. Ich bin, soweit ich mich erinnere, erst ein einziges Mal über die Brooklyn Bridge gelaufen. Das war vor einem guten halben Jahr mit meinen Eltern. Es war sehr kalt, und wir haben ewig gebraucht, bis wir den Fußgängerweg fanden. Wir sind lange über irgendwelche vereisten und struppigen Böschungen zwischen Manhattan- und Brooklyn Bridge gekrochen, meine Eltern haben tapfer geschwiegen. Der Junge lernt es nie. Das darf mir heute nicht passieren. Ich fliege die Straße hinunter, immer dem Licht entgegen, dann der freie Platz, der Blick, die Türme. Sie sind stärker beschädigt, als ich dachte. Die Löcher erinnern mich jetzt an Wunden. Es wird Monate dauern, bis man das wieder geflickt hat, denke ich. Wir hätten das Klappenfoto für mein Kolumnenbuch wirklich nicht nehmen können, definitiv nicht. Das Buch wird im Oktober erscheinen. Es wird wahrscheinlich in diesem Moment gedruckt. Es heißt
Schöne neue Welt
.
Die gesamte Court Street ist jetzt mit Autos verstopft. Es war ein großes Glück, dass ich dort überhaupt rausgekommen bin. Auf dem Platz mit dem Denkmal eines ehemaligen Bürgermeisters stehen Menschen, schauen nach Osten, sie könnten Demonstranten sein, aber ihnen fehlt die Wut, die Energie, sie haben kein Ziel. Ich laufe durch sie hindurch auf die Brücke zu, die aussieht, als spucke sie Menschen aus. Alle fliehen von Manhattan, der Insel der Träume. Von Weitem sieht es nicht so aus, als könne ich zwischen all den Menschen, die aus dem Brückenausgang quellen, überhaupt in die andere Richtung laufen, aber als ich näherkomme, sehe ich, dass es klappen könnte. Das Problem sind die beiden bewaffneten, uniformierten Männer, die vor der Brücke stehen. Ich suche nach meinem neuen Presseausweis vom
New York Police Departement
. Es war ziemlich schwierig, den Ausweis zu bekommen. Kerstin hat wochenlang für mich gekämpft. Ich bin stolz darauf, denn den Presseausweis des
Foreign Press Institutes
, den alle ausländischen Journalisten bekommen, nimmt hier keiner ernst. Der FPI-Ausweis sieht aus wie selbstgemacht, der NYPD-Ausweis aber ist dick und schillert wie eines der American Football-Sammelbilder aus den 70er Jahren. Ich strecke einem der beiden bewaffneten Männer den Ausweis entgegen. Er trägt eine dunkelblaue Uniform, eine Maschinenpistole und jede Menge Gerätschaften am Gürtel. Der Mann sieht kurz auf meinen Ausweis, aber der scheint ihn nicht sonderlich zu beeindrucken.
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