Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Ich brauche einen Parkplatz. Das ist die Lage. Es ist ganz dunkel. Der Redakteur ist dort drüben auf der anderen Seite des Atlantiks viel dichter dran als ich, aber das kann ich ihm nicht sagen. Es berührt meine Urangst als Reporter, immer am falschen Platz zu sein.
Als Jugendlicher habe ich in meinem Berliner Kinderzimmer auf einem sowjetischen
Junost
-Kofferfernseher dabei zugeschaut, wie Uwe Ampler in Colorado Straßenradweltmeister wurde. Es war ein Rennen in den Rocky Mountains, es war ziemlich neblig, aber auf dem Fernsehbild sah man deutlich, wie Uwe Ampler die Arme hochriss, als er entkräftet und allein ins Ziel fuhr. Der Sportreporter, den das DDR-Fernsehen in die USA geschickt hatte, sah das offenbar nicht. Er fragte sich, wo die Spitzengruppe bliebe, und ob Uwe Ampler wohl noch in der Spitzengruppe mitfahre, er beschrieb, wie die Spannung wuchs, während wir bereits die zweite Zeitlupe von Amplers Zieleinfahrt sahen. Der DDR-Sportreporter hieß Peter Woydt, ein großer dünner Mann mit einer dicken Brille und einem Seitenscheitel. Er tat mir immer ein wenig leid, in diesem Moment aber besonders. Sie schickten ihn um die halbe Welt, gaben einen Haufen Westgeld aus, und dann sah er nichts. Irgendwann erfuhr Woydt, wahrscheinlich über Kopfhörer, dass es vorbei war, dass er es versaut hatte, und von da an rief er nur noch: Zeigt uns doch die richtigen Bilder! Zeigt uns doch endlich die richtigen Bilder!
»Ich bin gleich da«, rufe ich dem Redakteur in Hamburg zu, aber ich glaube, die Verbindung ist schon wieder unterbrochen. Ich drücke auf dem Telefon herum, es ist still. Auch Anja ist weg. Ich kurve durch die hübschen kleinen Straßen von Brooklyn Heights – hohe Bäume, unbezahlbare Townhouses, alte Leute mit seltsamen Hunden und noch weniger Parkplätze als bei uns in Park Slope. Ich stelle mich vor einem kleinen Deli auf einen der Plätze, an denen eine Parkuhr steht. Ich werfe 50 Cent in den Automaten. Das reicht für eine halbe Stunde. Scheiß drauf.
E s ist erst kurz vor halb zehn, der ganze Tag liegt vor mir. Fünf Stunden noch, bis ich Ferdinand aus der Schule abholen muss, und Alex wird sicher auch eine Weile unterwegs sein. Ich beschließe, das Beste aus der Situation zu machen und ganz für Mascha da zu sein, heute an ihrem letzten Ferientag. Man könnte sagen, ich tue vorbeugend etwas gegen das schlechte Gewissen, bevor ich morgen bei Huggs erklären muss, dass Mascha nicht drei, sondern sieben Stunden in den Kindergarten geht.
»Ach, Mascha ist ein Ganztagskind? Schon? Wie alt ist sie? Drei? Bemerkenswert, wie sie das wegsteckt.«
Fast alle von Maschas Freunden sind in der Halbtagsgruppe. Ihre Mütter finden drei Stunden Kita genug, sie gehen in der Zeit einkaufen oder zum Yoga. Ich sehe sie manchmal aus meinem Arbeitszimmerfenster, wie sie ihre Buggies die Straße entlangschieben und auf ihre Kinder einreden. Wahrscheinlich diskutieren sie gerade, was sie heute zum Mittagessen kochen werden. Sie machen mich völlig fertig, diese vorbildlichen Halbtagsmütter und die Erzieherinnen, die mir am Ende des Tages kleine Zettel mit Botschaften zustecken, die Mascha ihnen angeblich diktiert hat. »Mama, bitte hole mich ab. Ich möchte, dass du mich sofort abholst. Mama, ich vermisse dich.«
Die Erzieherinnen von Huggs finden es wichtig, dass die Kinder ihre Gefühle herauslassen. Einer der ersten vollständigen Sätze, die Mascha auf Englisch sagen konnte, war: »That hurts my feelings!« Das verletzt meine Gefühle. Sie wusste noch gar nicht, was das bedeutet, aber sie wusste, dass man damit große Erfolge erzielen kann, vor allem im Streit mit ihrem Bruder.
»Mom, I want to play with Ferdi's Lego.«
»Hast du ihn gefragt?«
»Yes, but he won't let me.«
»Dann musst du das akzeptieren.«
»No, I don't want to. That hurts my feelings.«
Wenn es um ihre Gefühle geht, spricht Mascha Englisch. Sie plappert in einem fort und kann dabei perfekt den Tonfall und den Gesichtsausdruck der amerikanischen Mädchen nachmachen, die weit aufgerissenen Augen, die übertriebene Gestik, die gespielte Dramatik. Im Deutschen ist ihre Stimme tiefer, sie wählt die Worte sorgfältiger, sie wirkt wie ein anderer Mensch. Meine Freundin Claudia, die Montessori-Lehrerin ist, hat mich in unserem Sommerurlaub an der Ostsee darauf aufmerksam gemacht. Sie findet es faszinierend zu sehen, wie ein Kind sich in einem anderen Umfeld anders verhält. Ich muss daran denken, als ich in Maschas Zimmer
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