Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Mails, um zu sehen, ob die Zeit sich gemeldet hat wegen meines Eggers-Porträts. Hat sie. Der Fotoredakteur schreibt, dass Dave Eggers jetzt endlich das Foto autorisiert hat. Eggers hatte sich wochenlang geziert, wollte sich nicht fotografieren lassen, schlug dann Fotos eines befreundeten Fotografen vor, auf denen er aus unerfindlichen Gründen einen Blaumann trug. Die Zeit hätte sie gedruckt, die Klempner-Fotos, um überhaupt Fotos zu haben, aber der Fotograf »war inzwischen in den Wäldern Washingtons verschwunden und konnte die Bilder nicht schicken«, erklärt der Fotoredakteur. In letzter Minute habe Eggers nun ein anderes Porträtfoto genehmigt. »Jetzt ist alles geschafft, ich bin auch ganz zufrieden und ich hoffe, du auch. Liebe Grüße, Michael.«
Die Mail ist von heute Morgen, um zehn Uhr deutscher Zeit wurde sie in Berlin abgeschickt, vier Uhr morgens in New York. Da wusste noch keiner, dass in wenigen Stunden ein Flugzeug ins World Trade Center fliegen würde.
I
ch kenne den Weg zu den Brücken von den Stadtrundfahrten, die ich für unseren Deutschlandbesuch mache. Normalerweise fahre ich über die Flatbush Avenue und die Manhattan Bridge, dann auf den F.D.R. Drive, die East Side hinauf, kreuze, je nachdem, wie gut ich den Besuch kenne, an der 42. Straße Richtung Westen oder fahre noch bis zur 57., umrunde den Park, bevor ich auf dem Broadway zum Times Square fahre und von da rüber auf den Westside Highway. Aber um nach Downtown Manhattan zu gelangen, ist die Brooklyn Bridge besser, sie mündet in den Platz vor der City Hall, dem Rathaus der Stadt. Von da aus sind es nur noch drei, vier Blocks bis zum World Trade Center.
Ich schlängele mich durch die kleinen Straßen von Boerum Hill. Präsident Bush geht von einem terroristischen Anschlag aus, sagt die Stimme im Radio wieder, und diesmal erreicht mich der Satz, hat aber immer noch nichts mit mir zu tun. Es sei ein Anschlag auf Amerika, sagt das Radio. Aha. Wahnsinn. Gibt's doch nicht. Ich biege auf die Atlantic Avenue, da sind die schwarzen Fahnen wieder, größer und länger jetzt. Es ist erstaunlich, dass ich immer noch fahren kann, dass ich mich noch vorwärts bewege, dass mich niemand aufhält. Auf den Bürgersteigen stehen Menschen und starren in den Himmel. Die meisten von ihnen sehen aus, als seien sie auf dem Weg zur Arbeit aufgehalten worden. Businesskostüme, Aktentaschen, Krawatten, feuchte Scheitel, Rucksäcke, Kopfhörer. Die Zeit läuft jetzt wirklich langsam. Die Menschen dort draußen sind in ihrer schnellen
Rushhour
-Bewegung eingefroren worden wie der Hofstaat in Dornröschen. Ich gleite mit meinem schwarzen alten
Pathfinder
durch die Märchenlandschaft wie ein Besucher aus einer anderen Zeit.
Mein Handy klingelt, eine Hamburger Nummer. Ein Kollege vom
Spiegel
nennt mir seinen Namen, aber ich verstehe ihn nicht richtig, und ich frage nicht nach. Er erzählt mir irgendwas, es klingt wichtig, aber ich verstehe es kaum, die Verbindung ist sehr schlecht, und ich darf nicht zu spät kommen. Alles, was mich erreicht, ist, dass der Mann unglaublich aufgeregt ist. Viel mehr als ich. Dann ist er weg. Ich lege das Handy auf den Beifahrersitz und biege von der Atlantic Avenue rechts auf die Court Street, die zur Brooklyn Bridge führt, und dann sehe ich den Stau. Es ist ein hoffnungsloser Stau, denn er bewegt sich nicht, und im Hintergrund erkennt man die Brücke, die frei ist. Sie muss gesperrt sein. Ich fahre über den Mittelstreifen auf die andere Straßenseite. Wozu habe ich einen Geländewagen?
Das Telefon klingelt wieder. Es ist Anja. Sie will wissen, wo ich bin, im Hintergrund klopft ein weiterer Anrufer an. Ich sage Anja, dass ich einen Parkplatz brauche, einen verdammten Parkplatz. Dann drücke ich sie weg, um mit dem Klopfer zu reden. Augenblick, sage ich noch. Der aufgeregte Redakteur redet weiter. Er will wissen, wie die Lage ist, aber ich habe keine Ahnung. Ich stelle mir vor, wie er in seinem Hamburger Büro vor dem Fernseher sitzt, wo es inzwischen sicher Bilder aus allen Blickwinkeln auf die brennenden Häuser gibt und pausenlos irgendwelche Informationen aus aller Welt eintrudeln, während ich mit meinem uralten, abgeschrammten
Pathfinder
gerade in eine der schmalen, von Wolkenkratzern verschatteten Straßen in Brooklyns Downtown District einbiege, auf denen man von der Weltoberfläche zu verschwinden scheint. Ich sehe gar nichts hier, nicht mal den Himmel. Ich jage mit dem Jeep durch die Häuserschlucht.
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