Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
hinter uns gehört. Ich verstehe das, ich habe den Menschen in der Bank nichts vorzuwerfen. Wir rennen die Fulton Street hinunter Richtung Osten, die Wolke grummelt. Ich biege in eine schmale Straße, eher eine Hinterhofgasse als eine Straße, kurz und unscheinbar. Keine Geschäfte sind hier, nur die Ärsche der Bürogebäude. Wir sind immer noch zu dritt. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich sicherer in der Gasse, es ist so, als könne man hier Zuflucht suchen. Ein Versteck vor dem großen rollenden Ungeheuer. Ich glaube ernsthaft, dass der zusammenbrechende Turm sich die breiteren Straßen für seinen Weg suchen wird. Mein Physiklehrer Herr Reisner aus der Betriebsberufsschule der Wasserwirtschaft hätte müde gelächelt. Die haushohe Wand taucht am Ende der schmalen Gasse auf, sie ist grauschwarz. Ich drehe mich zur anderen Seite um, aber da ist eine genauso schwarze und hohe Wand. Die Wände rasen aufeinander zu, sie schlagen über mir zusammen, und es wird Nacht.
A lex ist nicht zu erreichen. Ich versuche es immer wieder, alle paar Minuten, und irgendwann, nach dem zehnten oder zwanzigsten Mal, denke ich das erste Mal, dass er nicht rangehen wird, nie mehr. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er neben dem World Trade Center steht, als es zusammensackt, wie er von einer Platte getroffen wird, von einer Wolke aus Schutt und Steinen, wie das höchste Gebäude der Stadt zusammenbricht, als er gerade im Foyer steht oder versucht, die Treppe hochzulaufen. Es ist mehr ein Gefühl, das Gefühl, dass etwas nicht mehr so sein wird, dass etwas vorbei ist. Ich schleiche um das Telefon herum, das auf dem Küchentresen liegt, und warte darauf, dass es klingeln wird, dass ich auf die Taste mit dem grünen Hörer drücke und seine Stimme höre, die sagt: »Anni, hörst du mich? Es dauert hier noch ein bisschen.« Das Telefon klingelt. Liz ist dran und sagt, dass sie zu ihrer Mutter geht und später bei mir vorbeikommt. Aber Alex ruft nicht an. Ich hoffe, ich warte, ich bin enttäuscht und dann werde ich wütend.
Warum ist er so? Warum muss er immer weiter? Warum ist er nicht auf der Brooklyn-Bridge umgekehrt, als der erste Turm zusammenbrach, zurück nach Park Slope, zu uns? Warum ist ihm die Geschichte wichtiger als seine Familie, als sein Leben?
Ich rufe das Spiegel -Büro in Manhattan an, in der Hoffnung, Kerstin oder Sabine haben was von Alex gehört. Kerstin versucht, unaufgeregt zu klingen. Aber ich höre das, und ich denke:Hätte sie nicht angerufen, wäre er nicht losgerannt. Es ist ungerecht, ich weiß, aber ich fühle es. Ich kann nicht anders.
Ich atme tief durch. Normalerweise funktioniert das. Angst um Alex ist ein Gefühl, das ich mir abgewöhnt habe in den Jahren, in denen ich mit ihm zusammen bin. Ich will nicht wissen, ob er mit 180 km/h über die Autobahn rast, weil er zu einem wichtigen Termin muss, ich ignoriere das Unwetter, durch das er fliegen muss, um ans Ziel seiner Recherche zu kommen. Ich versuche, nicht eifersüchtig zu sein, wenn er tagelang mit hübschen Fotografinnen unterwegs ist. Ich kann mir diese Gefühle nicht leisten. Sie würden mich auffressen.
Ich gehe nochmal die letzte Stunde durch. Als der erste Turm fiel, war er wahrscheinlich noch auf der Brücke. Die Frage ist, was er dann gemacht hat. Ist er zurückgelaufen oder weitergegangen?
Ich stelle mir beide Situationen vor. Das Bild, wie mein Mann mitten auf der Brücke kehrt macht, weil ihm plötzlich die Erkenntnis kommt, dass die Aktion irgendwie zu gefährlich ist, dass er jetzt lieber zu Hause sein sollte, bei mir und den Kindern, rutscht immer wieder weg und wird zu dem anderen Bild, das viel klarer ist, viel stärker: Alex läuft weiter, immer weiter. Er will dicht ran, so dicht wie möglich. Ihm ist es egal, ob ihm jemand sagt, dass man hier nicht weiter darf. Er denkt, dass er es jetzt schon so weit geschafft hat, dass er jetzt nicht zurückgehen kann.
Wo ist er? Warum ruft er nicht an?
Ich laufe zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her, sage zu Mascha, dass wir jetzt doch nochmal ein bisschen weiter basteln sollten, mische ihr Apfelsaft mit Wasser, trinke den kalten Kaffee von heute Morgen, wähle Alex' Nummer. Ich mache das, was ich immer mache, jeden Tag: Geschirrspülmaschine einräumen, Milch aus dem Kühlschrank holen, Mikrowelle anmachen, Zeitungen zusammenlegen. Ich bewege mich wie eine aufziehbare Puppe. Ich bin der kleine Hampelgeiger.
Ich will mir nicht vorstellen, dass Alex dort draußen für
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