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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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immer verloren geht. Was wird dann aus uns?
    Ziehe ich wieder weg aus New York, packe die Sachen in Kisten, melde die Kinder in der Schule und im Kindergarten ab, fahre mit dem Kater im Käfig zum Flughafen, stehe zwischen den Touristen in der Schlange, fliege übers Meer zurück, nur die Kinder und ich?
    Ich wähle seine Nummer und warte darauf, dass er sagt: »Ja, Osang?« In diesem fragenden Tonfall.
    Das geht, das kann ich mir vorstellen.
    Aber er nimmt nicht ab.
    Ich rufe Ferdinands Schule an. Ich würde ihn jetzt gerne bei mir haben. Im Sekretariat sagt man mir, sie würden eher davon abraten, Kinder vorzeitig aus der Schule abzuholen, die Schüler wüssten nicht, was passiert sei. Es sei wichtig, ihnen keine Angst zu machen, ihnen das Gefühl zu geben, sie seien in Sicherheit.
    Aber was, wenn nichts mehr sicher ist? Ich muss an unseren Florida-Urlaub denken, als ein Orkan über die Küste fegte. Unser Haus stand auf Pfählen, direkt am Strand. Die Wellen kamen immer näher, das Wasser war vor uns, unter uns, hinter uns, die Straße war überschwemmt, wir konnten nicht mal mit dem Auto fliehen.
    Fliehen, denke ich. Vielleicht sollte ich mit den Kindern fliehen. Raus aus New York, zu Alex' Kollegen Jan nach White Plains, in die Suburbs , wo wir nicht hinziehen wollten.
    Aber wie soll ich fliehen, wenn alle Brücken und Tunnel gesperrt sind? Jetzt im Stau auf einem Highway zu stehen, ist viel schlimmer als hier in Brooklyn zu sitzen. Ich hab ja auch kein Auto. Ich weiß nicht mal, wo es ist.
    Alex weiß, wo das Auto ist.
     
     
     
    A
ls Kind habe ich manchmal überlegt, ob ich lieber an einem schönen Tag oder an einem verregneten Tag sterben möchte. Damals dachte ich, Regen wäre besser. Ich würde nichts verpassen, mein letzter Blick ginge in den schwarzen Himmel. Kein Fußball heute, alles gut. Weiterhin war mir damals klar, dass ich sterben müsste, bevor ich vierzig Jahre alt bin. Ein Leben jenseits der vierzig erschien mir nicht sinnvoll, nicht vorstellbar. Jetzt betrachte ich die Dinge natürlich anders. Ich bin vor ein paar Wochen 39 Jahre alt geworden. Es ist noch Zeit. Und ich würde wirklich gern den Himmel sehen. Ich halte die Luft an und warte, dass es heller wird, aber es wird nicht heller. Auch nicht ein bisschen. Das euphorische Gefühl ist verschwunden.
    Einer der beiden Bauarbeiter leuchtet mit seinem Feuerzeug gegen die Häuserwand, an der wir stehen. Man sieht gestrichene Backsteine und eine verrammelte Metalltür. Die Gasse heißt Theatre Alley. Sie liegt zwischen Anne Street und Beekman Street. Es gibt keine Straßenschilder, und auf den meisten Stadtplänen ist Theatre Alley nicht verzeichnet. Bei Tageslicht sieht man, warum. Es ist ein Platz, an dem es nur Ratten gibt und Tauben sowie die leeren Schnapsflaschen und die Pappen der Penner, die hier übernachten. Theatre Alley ist eine enge, dunkle Gasse aus einem anderen Zeitalter, durch die man heute nicht mal geht, um einen Weg abzukürzen, ein Unort mitten in der Stadt. Ich sehe das nicht, jetzt, aber ich fühle es. Die Gasse ist eine Falle, die dicke schwarze Luft steht hier, es gibt kein Licht am Ende des Tunnels, keinen Silberstreif am Horizont.
     
     
     
    I ch träume manchmal von meiner Freundin Simone. Sie ist aus dem Fenster gesprungen, als sie 27 war, und in einem Traum hat sie mir gesagt, wenn sie gewusst hätte, dass wir nach New York ziehen, hätte sie es sich nochmal anders überlegt. Simone wollte immer raus aus Berlin. Ihr letzter Freund kam aus Venezuela, der davor aus Kuba. Als wir zusammen in der Türkei Urlaub machten, verliebte sie sich in einen türkischen Taxifahrer. Ich denke oft darüber nach, ob ich ihr hätte helfen können. An jenem Nachmittag vor fünf Jahren, als sie mich in der Redaktion anrief und mich in ihre frisch renovierte Wohnung einlud. Ich hatte keine Zeit, ich musste noch einen Artikel fertig machen. Nächste Woche, habe ich gesagt. Am Abend rief ihr Bruder an: »Mone ist tot«, sagte er und es klang wie eine Frage. Wie: »Weißt du was? Hast du eine Erklärung?« Hatte ich nicht, habe ich bis heute nicht. Simone klang bei unserem letzten Telefonat so viel ruhiger und gefasster als in den Monaten zuvor, in denen sie manchmal nicht mehr wusste, wo sie war und wo sie ihr Auto abgestellt hatte. Sie schien wieder sie selbst zu sein, ein neues Leben anfangen zu wollen, dabei wollte sie sich wahrscheinlich nur verabschieden.
    Alex war derjenige, der mich damals tröstete. Er ist eigentlich kein guter

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