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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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die Lippen. Er ist Asthmatiker, sagt er, der Staub mache ihm sehr zu schaffen.
    »Asthma«, schreibe ich in mein Notizbuch, ganz schnell.
    »Es ist seltsam«, sagt er. »Vor drei Tagen war ich noch zu einem Kongress in Israel, da ist ja die Gefahr immer da. Ich habe eine Reise in ein Siedlungsgebiet in der Westbank abgesagt, weil es mir zu selbstmörderisch schien. Und jetzt passiert das hier. Bei mir zu Hause«, sagt Garrin. Ich schreibe es mechanisch auf, ohne den Zusammenhang zu begreifen. Es passt alles noch nicht in meinen Kopf. Die Welt dort oben ist total aus den Fugen, sie ist für mich nicht vorstellbar. Garrin lehnt sich an die Heizung. Das Sprechen hat ihn erschöpft, er sieht wirklich blass aus. Er ist der erste Held meiner letzten Geschichte. Ich lasse mir seine Telefonnummer geben und reiche ihm eine meiner Visitenkarten. Ich bin stolz auf die Visitenkarten. Sie sehen gut aus. Der
Spiegel
ist in erhabenen mattroten Lettern gedruckt, man kann ihn mit dem Daumen fühlen, unsere Adresse ist 516 Fifth Avenue, Penthouse. Es ist, wie gesagt, eher eine Art Schuppen auf dem Dach eines alten Hauses, aber das weiß ja keiner. Ich schreibe ein bisschen verspätet »Hijacker« in meinen Block, »Pennsylvania«, »Pentagon« und »Krieg«. Es sind sinnlose Notizen, Dinge, die inzwischen alle im Radio gehört haben, ich weiß das, aber ich schreibe sie trotzdem auf. Ich verstehe Dinge oft besser, wenn ich sie aufgeschrieben habe. Es ist meine Art, die Welt zu begreifen.
    Der Mann, der mich zum Kotzen aufgefordert hat, heißt David Liebman, wohnt in Long Island, möchte aber nicht reden. Vielleicht später, sagt er und gibt mir eine Telefonnummer. Der aufgedrehte Junge mit dem asiatischen Gesicht heißt Steven Weiss, kommt aus Staten Island und studiert gerade an der Penn State University. Er sprudelt. Er war heute Morgen in Manhattan, um Wahlkampf für Mark Green zu machen, sagt er, den bekanntesten Bürgermeisterkandidaten der Demokraten. Er ist in die Wolke des ersten Turmes geraten, wie die anderen hier unten auch. Er hat da Eileen getroffen und ihr geholfen, ins Foyer zu kommen. Eileens Mann arbeitet im Nordturm, ganz oben, sagt mir Steve Weiss. Er senkt die Stimme: »Arbeitete im Nordturm, muss man jetzt wohl sagen.« Wir schauen zu Eileen, die schaut auf ihre Knie. Vom Foyer sind sie dann hier runter, sagt Steven Weiss, weil es hier sicherer ist. Das hat ihnen Sammy so gesagt, der Mann im
Jets
-Shirt. Zusammen mit Sammy war Steve dann auch noch einmal oben, sie haben im Staub einen Police Officer gefunden, der von einem Auto angefahren wurde. Der Mann, der dort drüben auf dem Boden liegt. »Hispanic«, sagt Steve Weiss. Ich kritzele die Telefonnummern von Steve in mein Notizbuch, er gibt mir eine aus Staten Island und eine eines Freundes aus Manhattan. Er kann sich nicht vorstellen, heute nach Hause zu gehen. Er werde dort oben gebraucht, sagt er. Er strahlt hinter einer ernsthaften Miene – das klingt seltsam, aber so sieht es aus. Ein euphorischer Ernst. Das erste Mal in seinem Leben erlebt Steve Weiss etwas wirklich Wichtiges. Er ist 18. Er will was machen.
    Immer wieder kommen Polizisten in unseren Keller, bleiben einen Moment und gehen dann wieder. Sie haben
Walkie-Talkies
dabei, aus denen Meldungen einer untergehenden Welt krächzen. Vier Leichen in der Church Street, zwei Leichen, sechs Tote, eine Leiche. Es gibt keine Meldungen über Verletzte, immer nur über Tote. Vielleicht sind wir die einzigen Überlebenden.
    Eine hübsche, kleine Frau in einem beigen Kleid erzählt mir, dass ihr ein Polizist namens Nick das Leben gerettet habe. Sie sei unter einer Bank in der Courtland Street eingeklemmt gewesen. Nick habe sie da rausgezogen. Sie selbst heiße Amy Lindsey und arbeite an der Wall Street. »Nick, verstehen Sie?«, fragt Amy Lindsey. »Er hat mir das Leben gerettet.« Sie schaut, ob ich den Namen auch wirklich aufschreibe. »Nick«, schreibe ich, und »Amy« und »barfuß«, denn auch Amy Lindsey hat keine Schuhe mehr an. Ich schreibe mir die Namen und die Nummern von den Polizeimarken der beiden Officer auf. Die Frau heißt Daire und hat die 4462, der Mann auf dem Boden heißt Velasquez und hat die 31066. Ich beuge mich über ihn wie über einen Grabstein und schreibe die Daten von seiner Brust ab. Eine ältere, verwirrt aussehende Frau sagt, ihre Tochter Michelle sei aus dem Hochhaus gesprungen. Immer wieder sagt sie das.
    »Aus welchem Hochhaus?«, frage ich.
    »Turm 1«, sagt sie. »Ich bin

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