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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anja Reich
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und Farben fügen sich langsam zu einem Bild. Es gibt eine Werkbank und einen Schreibtisch mit einem großen schwarzen Telefon. Der Raum sieht aus wie das Zimmer eines Hausmeisters, und er riecht auch so, nach Öl, nach Unterarm und nach Wurst. Am Telefon steht ein junger Asiate, der wie aufgezogen hin- und hertippelt. Er wählt eine Nummer, bekommt aber offenbar keine Verbindung. Es ist dunkel in dem Raum. Neben dem Schreibtisch liegt der dicke Polizist immer noch auf dem Rücken wie ein Käfer. Über dem Schreibtisch hängt ein Regal, in dem ein Kofferradio steht. Das Radio läuft, es knistert und rauscht. Der Empfang ist nicht gut, aber man versteht genug. Die Rede ist von Flugzeugen. Es waren Passagierflugzeuge, die ins World Trade Center geflogen sind. Große Flugzeuge. Außerdem ist ein Flugzeug in das Pentagon gestürzt, eins ist in Pennsylvania verschwunden. Es ist Krieg, denke ich. Ich sitze in einem Luftschutzkeller. Ich hoffe, Anja ist sicher in Brooklyn, vielleicht sind sie auch in den Keller gegangen. Ich würde gern mit ihnen in unserem Keller sitzen bei all den deutschen Sachen, die den langen Weg über den Atlantik damals umsonst angetreten haben. Bei meiner alten Stereoanlage mit den großen, schwarzen Boxen, die Anja immer so gehasst hat, Männerboxen hat sie sie genannt. Bei ihren Langlaufskiern, den Pippi Langstrumpf-Videokassetten und den seltsamen grauen, 80 Mark teuren Eisenkästen, die angeblich deutsche und amerikanische Stromspannungen ausgleichen, aber immer nach drei Tagen in der Wirklichkeit von Brooklyn
puff
machen und sterben.
    Neben dem Schreibtisch sitzt eine mittelalte Frau in einem Businesskostüm auf einem Drehstuhl und schluchzt, als sie die Meldungen hört, sie zittert. Sie hat eine dieser Betonfrisuren, die amerikanische Geschäftsfrauen, Politikerinnen und Fernsehmoderatorinnen gern tragen, ihre ist mit der Asche des World Trade Centers bestäubt und wirkt dadurch noch steinerner, fester, unzerstörbarer. Die Frisur und das Gesicht der Frau scheinen nicht zusammenzugehören. Der Mann mit dem
Jets
-T-Shirt und der Goldkette, an der eine Polizeimarke hängt, tätschelt der Frau die Schulter, murmelt etwas und macht das Radio aus. Keine schlechten Nachrichten mehr. Neben mir sitzt ein blasser Mann in einem Anzug auf einem Heizkörper. Er hat ein Taschentuch vor dem Mund, zu seinen Füßen steht ein Aktenkoffer, er sieht aus, als warte er auf den Bus. Der kleine Asiate bekommt offenbar eine Verbindung.
    »Dad?«, ruft er. »Dad, it's me, Steve.«
    Er erklärt seinem Vater, wo er ist, was passiert ist und dass er die Fähre nach New Jersey verpasst hat. Er redet immer schneller, er klingt, als würde er sich verteidigen. Neben ihm steht der breitschultrige Mann mit dem
Jets
-Shirt und der Polizeimarke, hört zu und reißt irgendwann den Telefonhörer weg. »Hier spricht Sammy Fontanec, Officer Fontanec. Hören Sie mal zu, mein Lieber, seien Sie froh, dass Ihr Junge hier noch am Leben ist«, ruft er, dann knallt er den Hörer auf. Der kleine Asiate nickt. Er ist vielleicht achtzehn oder neunzehn. Officer Fontanec steht neben dem Telefon. Er sieht die schluchzende Frau im Businesskostüm an und fragt:»Eileen, willst du's nochmal versuchen?« Die Frau nickt, schnäuzt sich, steht auf und nimmt den Hörer, wählt, lauscht, legt den Hörer wieder auf die Gabel, setzt sich hin, schluchzt. Der kleine Asiate, Steve, ruft, er muss wieder raus, helfen.
    »Niemand geht raus, dort draußen ist es zu gefährlich«, sagt Fontanec. »Ihr könnt gehen, wenn die Luft rein ist.«
    Eine Geschichte noch, denke ich, eine Geschichte über den Keller. Die eine Geschichte, dann ist Schluss. Mein letzter Text, denke ich und frage den blassen Mann, der neben mir auf dem Heizkörper sitzt, wie es ihn in den Keller verschlagen hat.
    Er heißt Steven Garrin und kennt den
Spiegel
, sagt er. Er interessiere sich sehr für Deutschland, für deutsche Literatur vor allem, Thomas Mann, Franz Kafka, Stefan Zweig, seine Mutter stamme aus Berlin. Wunderbar, denke ich, ich halte einen Faden in der Hand und rolle ihn auf. Garrin ist Rechtsanwalt, er hat eine kleine Einzelkanzlei hier um die Ecke. Er war auf dem Weg dorthin, als der erste Turm zusammenstürzte. Er floh ins Foyer eines Bürogebäudes und von da in den Keller hier. Ich hole meinen Block heraus, beginne mitzuschreiben. Ich halte den Block tief, weil ich fühle, dass es noch zu früh ist für Journalismus. Garrin hüstelt, drückt sich das Taschentuch vor

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