Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
springen sah. Man kann sie nicht richtig erkennen, so dicht beugt sie sich übers Telefon, und man hört sie auch nicht sprechen. Sie könnte eingeschlafen sein, aber wer soll sie wecken? Nach Shaun und Paul bin ich dran, denke ich. Die Männer arbeiten für eine Reinigungsfirma, sagt mir Shaun, und dass er aus Brooklyn komme. »Brooklyn«, schreibe ich in den Block. Und: »Cleaner«. Keine Bauarbeiter, ich stand mit zwei Gebäudereinigern auf der Schwelle zum Tod.
In dem Moment kommt Sammy Fontanec, der Polizist im
Jets
-Shirt, und schaut auf den Schreibblock.
»Was machst du hier eigentlich?«, fragt er, und ich höre schon am Ton, dass er es nicht mögen wird.
»Ich bin Journalist«, sage ich. »Ein deutscher Journalist. Und Sie? Wie sind Sie hier hineingeraten?«
Fontanec mustert mich kühl. In Amerika sind Journalisten angesehener als bei uns zu Hause. In Deutschland kommt es vor, dass die einfachsten Leute ein Riesengewese um ihren Beruf oder ihren Namen machen, als arbeiteten sie für den Geheimdienst, Amerikaner nehmen sich nicht ganz so wichtig. Sie helfen gern, erst recht, wenn man so weit zu ihnen gereist ist wie ich. Aber Officer Fontanec mag keine Journalisten. Das sehe ich. Die Art, wie er sich bewegt, die Goldkette mit der Marke dran, die zurückgepeitschten Haare, die zusammengekniffenen Augen, aus denen er mich mustert. Es ist eine Autoritätsfrage. Er arbeitet als Zivilpolizist im Drogendezernat Harlem und war heute in Downtown, um vor dem Gericht gegen einen Crackdealer auszusagen.
»Ich verstehe das nicht«, sagt Fontanec. »Da draußen ist die Hölle los, da sterben Menschen. Könnt ihr Journalisten nicht mal einen Moment lang Ruhe geben? Ich habe jetzt wirklich andere Sorgen, als deine Fragen zu beantworten.«
Vor einer Viertelstunde habe ich ganz genauso gedacht, und eigentlich denke ich immer noch so. Ich will ja Ruhe geben. Dies ist doch meine letzte Geschichte. Ich sage das nicht, weil ihn das nicht beeindrucken würde. Er hört das in seinem Job bestimmt oft genug. Ich schaue auf die Marke an seiner Kette. »Fontanec«, steht da. Nur ein C mehr als Fontane, denke ich. John Maynard ist sicher in Deutschland tausendmal bekannter als in Amerika. John Maynard hat ein Schiff voller Menschen vor dem Tod bewahrt, Fontane hat ihm ein Denkmal gesetzt. Was will ich eigentlich erzählen? Dass ich hier war? Schon wieder nur, dass ich hier war? Aber ist es nicht das, was wir machen? Ist es nicht das, was Reporter immer gemacht haben, seit es sie gibt? Da sein und darüber berichten, was sie sehen und auch, dass sie da waren? Ich werde doch dafür bezahlt, dass ich hinschaue, wenn die anderen wegschauen. Ich bin nicht unanständig. Ich klopfe nicht gern an fremde Türen wie ein Hausierer. Ich bin dreimal um das Dorf gefahren, in dem der
rosa Riese
lebte, die
Bestie von Beelitz
, der brandenburgische Frauenmörder, bevor ich mich traute, auszusteigen, um bei seinen Eltern zu klingeln. Die Eltern taten mir leid, aber am Ende macht das keinen Unterschied.
Es ist nicht leicht, in andere Leben einzubrechen, aber wenn man erstmal drin ist, fühlt es sich gut an. Ich waide die Leute aus und werfe sie dann weg. So kann man das sehen. Ich sammle Menschen, Tragödien, mich interessiert das, worüber niemand gern in der Zeitung reden würde. Ich sollte wirklich aufhören. Ich höre auf! Ich höre wirklich auf, aber während ich das denke, versuche ich mir die Nummer auf Fontanecs Polizeimarke einzuprägen. Vielleicht kann ich ja nichts dafür. Es steckt in mir drin. Das wäre eine Erklärung, die meine Frau wahnsinnig machen würde. »Immer sind die Umstände schuld, nie du!«, sagt Anja, wenn ich zu einer meiner weltumspannenden Erklärungen ansetze. Sammy Fontanec schüttelt den Kopf, wippt auf den Zehen, breitbeinig. Ich glaube nicht, dass es der Tag und der Ort für eine Grundsatzrede über den Sinn des Journalismus ist. Der
rosa Riese
würde Officer Fontanec nur verwirren. Ich umklammere Anjas Notizblock wie einen alten Freund. Er ist ein bisschen nass geworden, von dem Wasser, mit dem ich mir die Augen ausgespült habe. Ich sollte jetzt still sein. Endlich still.
Ich bin jedenfalls froh, als zwei Sanitäter in den Raum kommen und den dicken Officer Velasquez auf eine Trage laden und so von mir ablenken.
Ich bin jetzt eine Figur im Raum, an die sich die anderen erinnern werden:
Da war noch dieser Journalist, so ein sommersprossiger Typ, ein Deutscher glaube ich. Da oben brannte die Welt ab, und der
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